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Haben Sie auch Stress?

Heute ist alles Stress. Sogar die schönsten Dinge des Lebens. Und selbst wer keinen Stress hat, redet darüber. Warum ist Stress eigentlich schick?

Dürfte ich das Unwort des Jahres wählen, müsste ich nicht lange überlegen. Ich würde mich für "Stress" entscheiden. Am liebsten würde ich die Benutzung dieses Wortes sogar ganz verbieten. Ich kann es einfach nicht mehr hören! Egal, ob sich Gespräche um Arbeit, Freizeit, Familien- oder Liebesleben drehen - alles ist stressig. Selbst angenehme Dinge bedeuten für viele Hektik, Zeitmangel und Atemnot. Stress ist zu einer wahren Epidemie geworden. Manchmal frage ich mich, woher das kommt: Sind gestresste Menschen wirklich so überlastet oder nur nicht in der Lage, ihren Tagesablauf so zu strukturieren, dass genügend Raum zum Luftholen bleibt? Aber vor allem: Warum können sie die Folgen ihrer mangelhaften Organisation nicht für sich behalten? Denn leider ist Stress oft ansteckend. Sobald jemand darüber stöhnt, welche Widrigkeiten sich das Leben ihm gegenüber wieder erlaubt hat, werde ich in den Strudel von Hektik und Getriebensein hineingezogen. Ich bin genervt, selbst wenn ich gerade noch entspannt und zufrieden war.

Meine Großmutter klagte nie über Stress.

Das Stressvirus ist übergesprungen, ohne dass derjenige, der seine Überforderung wie ein Mantra vor sich hin spricht, sich selbst etwas Gutes damit tut. Denn durch solche Gespräche fühlen sich alle Beteiligten nur noch gestresster, wie Studien längst gezeigt haben. Wie kann ein kleines Wort uns so den Alltag vermiesen? Wie kommt es, dass diese sechs emotional aufgeladenen Buchstaben heute allgegenwärtig sind? Früher gab es diesen Begriff noch nicht. Meine Großmutter zum Beispiel habe ich nie über Stress klagen gehört. Dabei hatte sie sicher kein leichtes Leben. Nach dem Krieg war sie alleinerziehend, arbeitete im Drei-Schichten-System in einem Kinderheim und besaß weder Mikrowelle noch vollautomatische Waschmaschine. Gründe zu jammern hätte es also genug gegeben. Aber offenbar kam damals niemand auf die Idee, ständig seine persönliche Belastung zum Gesprächsthema zu machen.

Diese allgemeine Zurückhaltung änderte sich schlagartig, nachdem 1950 ein Buch mit dem Titel "Stress" erschien. Erstmals tauchte das Wort in den Medien auf. Es gab Radioreportagen und Zeitungsberichte darüber, und plötzlich wurde es richtiggehend schick, "gestresst" zu sein. Eingebrockt hat uns diesen Begriff, der seitdem unser ganzes Leben verändert hat, Professor Hans Selye, ein Mediziner und Hormonforscher aus Montreal. Jahrelang hatte er die Mechanismen untersucht, mit denen sich unser Körper an innere und äußere Veränderungen anpasst. Bereits 1936 beschrieb er in der Zeitschrift "Nature" eine "Alarmreaktion" des Körpers auf Reize, die lebenswichtige Funktionen wie Blutdruck und Temperatur aus der Balance bringen. Ein ganz normaler Vorgang, über den man sich keine Sorgen machen müsste. Nur wenn die Reize, die Anforderungen an den Körper, nicht endeten, so der Wissenschaftler, würden sie irgendwann zu Überforderungen. Dann liefe unser Organismus ständig auf Hochtouren, was irgendwann zu Problemen führen könnte.

Mit der Zeit suchte Prof. Selye nach einem griffigeren Ausdruck für dieses Phänomen. Böse Zungen behaupteten, er sei als gebürtiger Österreicher des Englischen nicht bis ins Detail mächtig gewesen, weshalb er sich das Wort "stress" mehr oder weniger zufällig bei Physikerkollegen "lieh", die damit "mechanische Spannung" beschrieben. Ich vermute jedoch, er hat diesen technischen Begriff ganz bewusst gewählt. Schließlich stehen wir bei Belastung eindeutig "unter Druck". Außerdem ist ein einziger kurzer Vokal, eingequetscht zwischen fünf Konsonanten, für mich eine absolut treffende Lautmalerei für diesen angespannten Zustand. Wie auch immer: Als sein Stress-Buch erschien, wurde er über Nacht mit seiner Theorie berühmt. Fast war es so, als ob die ganze Welt darauf gewartet hätte. Nun gab es eine offizielle Legitimation dafür, über das eigene Unwohlsein zu reden!

Seit Selyes Veröffentlichung gehört Stress zu unserem Alltag, und die Forschungen darüber laufen auf Hochtouren. Mediziner, Biologen, Psychologen, Genetiker und sogar Gesellschafts- und Sozialwissenschaftler versuchen, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Diagnostische Methoden und Behandlungskonzepte sind mit den Jahren immer ausgefeilter geworden. Längst reicht es nicht mehr zu sagen: "Ich brauche eine Pause, weil ich müde bin." Inzwischen werden sowohl Hormonstatus als auch Blutbeschaffenheit genau gemessen, genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse detailliert geklärt und daraus entsprechende Therapieempfehlungen abgeleitet.

Auch die Palette von Angeboten, um den Auswirkungen alltäglicher Belastung entgegenzuwirken, wird ständig breiter. Wir fasten und meditieren, lassen uns in Sauna und Spa Körper und Seele wärmen, gehen zu Reiki, Kinesiologie und Chakra-Therapie. Die Wellnessbranche freut sich, mit Stress lässt sich viel Geld verdienen. Doch was bringt es uns letztendlich? Häufig nur einen noch engeren Zeitplan und noch mehr Stress im Alltag. Unser Körper unterscheidet nämlich nicht zwischen "schönen" und "schlechten" Belastungen. Auch euphorische Gefühle, wie frisch verliebt zu sein oder einen neuen Job zu haben (die Fachleute sprechen von beflügelndem "Eustress"), setzen die gleichen Reaktionen in Gang wie Straßenlärm oder Streit mit dem Partner ("Disstress" genannt).

Sogar Langeweile, körperliche oder geistige Unterforderung gelten als Stressauslöser. Der Organismus antwortet stets gleich: Zum einen wird der Hypothalamus, der oberste Manager des Hormonsystems im Gehirn, aktiviert. Der sorgt dafür, dass die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) das Hormon ACTH ausschüttet und so die Produktion von "Stresshormonen", also von Glukokortikoiden, in der Nebennierenrinde ankurbelt. Zum anderen alarmiert das Gehirn das sympathische Nervensystem, das blitzschnell dafür sorgt, dass über das Nebennierenmark ein Mix aus zwei weiteren Stresshormonen, Adrenalin und Noradrenalin, ausgestoßen wird. Durch diesen Hormoncocktail werden in Bruchteilen von Sekunden die Zucker- und Fettreserven des Körpers geplündert, das Herz schlägt schneller und versorgt die Muskeln mit Kraft und Sauerstoff. Die Körperspannung steigt, das Bedürfnis nach Schlaf, Essen und Sex wird abgeschaltet, die Verdauung erlahmt.

Diese Reaktion steckt seit Menschengedenken in unseren Genen. Nach dem Motto "Fight or Flight" wurde dabei ursprünglich aufgestaute Energie durch Kampf oder Flucht abgebaut. Danach konnte man sich entspannt am Lagerfeuer niederlassen. Unser Körper ist also darauf ein gerichtet, im Notfall mühelos auf (Angriffs-)Reize zu reagieren. Doch heute müssen wir nicht mehr gegen wilde Tiere kämpfen. Und unseren Energieüberschuss können wir auch nicht mehr so leicht durch Flucht oder An- griff ausgleichen. Unsere "Feinde" sind Termin- und Leistungsdruck, Informationsüberflutung, Dauerlärm, Hightechgeräte und zunehmende Mobilität. Aber wer tritt schon dem Chef gegen das Schienbein oder zertrümmert den Computer? Stattdessen sitzen wir wie Kaninchen vor der Schlange - bewegungsunfähig und von Stresshormonen überflutet.

Längst wissen wir, dass nicht der kurzfristige hormonelle Kraftakt, zum Beispiel bei Ärger mit dem Partner oder einer verpassten U-Bahn, uns krank macht. Gefährlich wird es erst, wenn die Hormonspiegel keine Gelegenheit mehr haben, sich wieder auf Normalniveau einzupendeln. Vor allem die Glukokortikoide entfalten dann unangenehme Wirkungen wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Infektanfälligkeit und Kopfschmerzen. Studien belegen seit langem, dass eine andauernde "Alarmreaktion" den Körper so schwächt, dass Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Ängste und Depressionen entstehen können. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Stress deshalb inzwischen als eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts eingeordnet.

Doch bis es so weit kommt, müssen wir lange Zeit extremer Überforderung ausgesetzt sein. Erst dann geben sich die körpereigenen Abwehrstrategien geschlagen. Natürlich gehen berufliche und private Probleme nicht spurlos an uns vorbei. Fest steht zudem, dass wir nicht bewusst steuern können, wie stark unser Körper auf bestimmte Anforderungen reagiert - auch das haben Studien gezeigt. So sind zum Beispiel Menschen, deren Mutter in der Schwangerschaft sehr angespannt war, später schneller aus der Ruhe zu bringen als andere. Doch das heißt nicht, dass sie sich ihr Leben lang atemlos durch den Alltag kämpfen müssen. Wir können alle lernen, besser mit Belastungen umzugehen und Anspannung abzubauen.

Stress ist ein Statussymbol.

Viele machen gute Erfahrungen mit Sport, der zivilisierten Version der Fight-or-Flight-Reaktion. Nach einem Dauerlauf ist die überschüssige Energie, die der Organismus als Reaktion auf die täglichen Anforderungen produziert, abgebaut, und wir fühlen uns entspannt und ausgeglichen. Andere erlernen klassische Entspannungsmethoden wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation. Und wieder andere entwickeln eigene Abwehrstrategien wie Abendspaziergänge oder Klavierspielen. Doch für einen entspannten Umgang mit Stress ist noch etwas anderes entscheidend: nicht dauernd darüber reden. Das setzt jedoch ein Umdenken voraus und Mut zum Imagewandel. Denn wahrscheinlich geht es bei den Klagen über unsere Dauerbelastung gar nicht so sehr um die Beschreibung körperlicher und mentaler Befindlichkeiten. Stress ist heute ein Statussymbol. Wer seinen Alltag ohne Hektik meistert, kommt schnell in den Verdacht, nicht engagiert genug zu sein.

Leistung ist extrem wichtig in unserer Kultur. Die meisten von uns leben, um zu arbeiten, nicht umgekehrt. Daraus speisen wir unser Selbstverständnis. Denn tief in uns ist die Überzeugung verankert: Nur wer sich auspowert, verdient Beachtung. Und da es für uns - so der Freiburger Psychoneuroimmunologe Professor Joachim Bauer - das Schlimmste ist, nicht beachtet zu werden, wollen wir unbedingt im großen (Stress-) Strom mitschwimmen. Dabei wünschen wir uns insgeheim oft genau das Gegenteil: Entspannung. Endlich in Ruhe Zeitung lesen oder auch mal gar nichts tun.

Ob wir entspannter wären, wenn Telefon, E-Mails, und Blackberry nie erfunden worden wären? Wenn wir uns nur nach unserem eigenen Rhythmus richten müssten? Schöne Vorstellung. Ich werde es einfach ausprobieren. Öfter mal gegen den Strom schwimmen, mich Stress-Gesprächen entziehen und dem äußeren Druck innere Gelassenheit und Stärke entgegensetzen. Vor allem werde ich nicht länger nur von Entspannung träumen, sondern endlich versuchen, entspannt zu leben.

Nicht leise, nicht langsam

Haben Sie auch Stress?
© Christoph Hainc/photocase.com

Wer Entspannung pur sucht, kommt oft aktiv und abenteuerlich besser ans Ziel

Yoga, Qi-Gong, Meditation. Entspannungsklassiker aus Fernost sind sehr beliebt. Doch nicht für alle sind sie der Königsweg. "Bei körperlich angespannten und emotional überreizten Menschen können diese Techniken eine innere Unruhe sogar verstärken", warnt Dietmar Ohm, Vorsitzender der Fachgruppe Entspannungs- verfahren beim Berufsverband deutscher Psychologen. Mit Gewalt entspannen geht nicht. Om-Singen und Auf-der-Matte-Liegen sind dann erst recht Stress. Viele Menschen können nicht still sitzen, sagt auch Professor Jörg Fengler von der Universität Köln. Die "Künste der Langsamkeit" sind deshalb nicht jedem zugänglich. Das hat meist weniger mit Persönlichkeit und Temperament zu tun als vielmehr mit den Belastungen, denen jeder ausgesetzt ist.

"Menschen, die den ganzen Tag im Büro sitzen und geistig aktiv sind, sollten sich zum Ausgleich nicht wieder ruhig verhalten und mental weiterarbeiten", empfiehlt Ohm. Sie brauchen ein Kontrastprogramm, um zu entspannen. Und oft erst einmal eine Dosis Anspannung, um dann loslassen zu können. Gut ist es, die richtige Mischung von geistiger und körperlicher Herausforderung, Ruhe und Aktion zu finden. Bewegung ist wunderbar, um Stresshormone abzubauen. Wem es aber an positiven sozialen Kontakten fehlt, der macht besser Sport in der Gruppe, statt allein zu joggen. Und wer sich in einem Routinejob langweilt oder den Grübelkreisel im Kopf kaum stoppen kann, den entspannt wahrscheinlich eine kreative Beschäftigung oder ein Gehirntraining eher als die Konzentration auf ein Meditationsmantra. Auch eine Abenteuersportart kann den nötigen Kick zum Abschalten geben. Entspannung ist etwas ganz Individuelles. Sie lässt sich nicht nur aus Yoga-Asanas und Atemübungen gewinnen.

Eva Meschede

Fotos: Clipart , Christoph Hainc/photocase.com

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