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Etwas mehr Achtsamkeit, bitte!

Er fordert weder eine Renaissance des Knicks noch des Handkusses. Aber etwas mehr Respekt würde unseren Alltag netter machen, findet der Psychologe Oskar Holzberg.

Nennen wir sie Jana. Morgens auf dem Weg zur Arbeit dröhnt ihr der iPod des Nachbarn ins Ohr. Duf-dum-duf-duf. Zwei Stunden später knallt ihr der Chef Unterlagen auf den Tisch. Die müsse sie ändern. "Wieso muss man hier eigentlich alles selbst machen?" Zu Hause erwartet Jana ein Pubertierender, der wortlos in seinem Zimmer verschwindet, und eine Neunjährige, die findet, dass ihre Mama heute "voll fertig" aussieht. Als Jana später zum Essen ruft, rührt sich niemand. Genervt geht sie zum Sport. Beim Volleyball-Spiel blockt sie den Ball der Gegner erfolgreich. Punkt. Ihre Teamkollegin klatscht sie ab: "Respekt!" – endlich!

Jana und ihr Tag sind erfunden. Aber wir alle kennen solche Tage. Denn sobald wir mit anderen zu tun haben, geht es um Respekt. Als besäßen wir ein inneres "Respektometer", spüren wir in den banalsten Alltagshandlungen, wenn uns jemand den Respekt versagt: wenn Passanten auf dem Gehweg drängeln, unsere Arbeitskollegin ungefragt unseren Rechner nutzt oder unser Liebster seine Bierflaschen im Wohnzimmer stehen lässt. Im Grunde sind das Kleinigkeiten. Aber sie gewinnen an Bedeutung, weil sie unseren Sinn für Respekt verletzen.

Respekt bedeutet Rücksicht

Respekt ist so wichtig, weil er ein zwischenmenschliches Miteinander erst möglich macht. Er ist die Achtung füreinander. Im Respekt erkennen wir den anderen an: mit Hochachtung für seine Leistungen. Mit Furcht und Scheu für sein Amt und seine Funktion wie gegenüber Polizisten oder Chefärzten. Am bedeutungsvollsten ist für uns aber der grundsätzliche Respekt voreinander. Wie der Soziologe Richard Sennett schreibt, fußt unsere "Gesellschaft auf dem Grundgedanken, dass wir gegenseitigen Respekt bekunden, indem wir einander als gleich behandeln".

Wahre Gentlemen sind heute so selten wie frei lebende Berggorillas.

Das Wort Respekt stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt "Rücksicht". Wenn wir uns respektvoll verhalten, schauen wir hinter uns, auf das, was wir zurücklassen. Respekt führt deshalb zu Vorsicht. Wir begegnen einander zurückhaltend, höflich, distanziert. Wie ein klassischer englischer Gentleman, dessen Grundsatz es ist, niemals etwas zu tun, was die Gefühle eines anderen verletzen könnte. Doch wahre Gentlemen sind heute so selten wie frei lebende Berggorillas. Und obwohl wir nicht mehr scharf sind auf Handküsse, ist uns doch Respekt in Form von Anstand und gutem Benehmen wieder wichtig geworden. Und zwar so sehr, dass Etikette-Ratgeber auf den Bestsellerlisten landen und Benimm-Seminare regen Zulauf bekommen.

Das so genannte gute Benehmen war schon immer ein Erkennungszeichen der Mächtigen und Reichen, und jedem ist klar, dass er mit der Hummerschere umgehen können muss, um auf der Erfolgsspur nicht ins Schleudern zu geraten. Andererseits ist Respekt – und damit seine rituelle Form, das Benehmen – immer dann Thema, wenn soziale Umgangsformen neu eingeübt werden müssen. In einer Zeit zunehmend schnellerer Veränderungen entstehen immer mehr Lebenswelten, die uns unverständlich sind. Wir brauchen dringend Verhaltensregeln, die uns helfen, mit Menschen respektvoll umzugehen, die wir nicht kennen, deren Welt wir nicht verstehen: Fremde in unseren Urlaubsländern. Zufallsbekanntschaften. Arbeitskontakte. Jugendliche. Immigranten. Was bieten wir an, damit wir respektvoll miteinander umgehen? Wenn junge Immigranten "Ey, Alte, lass ma' durch!" zu uns sagen, fühlen wir hautnah, dass wir als Gesellschaft am gegenseitigen Respekt arbeiten müssen.

Vorbilder, die Respekt verdienen, werden seltener

Natürlich waren Jugendliche schon immer respektlos. Aber das Zeitalter der Hippies, Punks und Anti-Autoritären, in dem Respekt offen abgelehnt wurde, ist Geschichte. In den 60er und 70er Jahren wurde mit langen Haaren, frechen Sprüchen, heruntergezogenen Hosen und Sicherheitsnadeln im Ohr gegen eine scheinheilige Bürgerlichkeit protestiert. Respekt war "out". Denn es gab respektheischende Autorität im Überfluss. Heute ist Respekt "in". Denn der Markt dafür hat sich dramatisch verändert. Respekt ist Mangelware. Ob drogensüchtige Pop-Idole, korrupte Firmenchefs oder eigennützige Politiker: Vorbilder, die Respekt verdienen, werden seltener. Jugendliche kennen kaum noch den durch die Magengrube ziehenden Respekt vor Autoritäten. Sie protestieren nicht durch Respektlosigkeit. Sie sind schon weiter. Sie protestieren für Respekt. Besonders jene Minderheiten, die die Abweisung durch Türsteher, die Nachteile bei der Jobsuche und die misstrauischen Blicke ihrer Umwelt kennen, drucken "RESPECT!" auf ihre Muscle-Shirts.

Gedankenloser Egoismus ist auch mangelnder Respekt.

Vom US-amerikanischen Rapper Eminem bis zu den biederen No Angels. Der Text lautet: "Alles, worum es geht, ist Respekt." Eine verständliche Forderung. Denn in einer Gesellschaft, in der es kaum noch verbindliche Werte neben dem finanziellen Erfolg gibt, ist Respekt schwer zu erlangen. Jeder sorgt für sich, aber alle können nicht gewinnen. Und die Verlierer spielen dann das Nullsummenspiel des Respekts: "Wenn ihr mich nicht respektiert, respektiere ich euch auch nicht." Was bleibt, ist Verachtung, im Extrem das Messer am Hals. Doch auch der Herr im grauen Anzug parkt seinen Jaguar in der dritten Reihe, um seine Hemden schnell aus der Reinigung zu holen. Der daraus resultierende Stau stört ihn nicht. Gedankenloser Egoismus. Irgendwie bekommt man einen dicken Hals darüber. Die Wut aber gilt dem mangelnden Respekt.

Respekt steht in unserer Gesellschaft jedem zu. Glücklicherweise. Doch daraus entsteht auch gleichzeitig unser Problem damit. Wenn alle gleich sind, wenn niemand mehr besondere Achtung verdient, wer setzt dann noch Respekt durch? "Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt", hat Dostojewski geschrieben. Wir sind nah an einem Zustand, in dem es nichts mehr gibt, was alle respektieren. Denn unsere Werte zerbröseln: Fairness unter den Doping- Spritzen der Spitzensportler, Ehrlichkeit unter Bushs Iraklügen; Gerechtigkeit unter dem feisten Siegeszeichen der Ackermänner. Brüderlichkeit und Solidarität drohen den globalen Geldstrom runterzugehen. Und wo bleibt die Gleichheit angesichts der auseinanderreißenden Einkommensschere bei Konzernchefs und Billiglohnarbeitern?

Wer möchte, dass er respektiert wird, muss sich selbst respektieren.

Das alles bedroht auch unsere Einstellung zum Respekt. Denn Respekt ist schnell zu verlieren und nur schwer wiederzuerlangen. Weil Respekt, als die Anerkennung der Selbstbestimmung des anderen, Achtung voraussetzt. So richtig verstehen wir ja weder den uns zwanghaft anmutenden koreanischen Geschäftsmann noch den türkischen Jugendlichen, der zwischen Familienehre und MTV breitbeinig durch die Straßenschluchten stiefelt. Aber Respekt muss auch nicht verstehen. Das ist sein großer Vorteil. Respekt ist die Anerkennung der Tatsache, dass wir vieles im anderen nicht verstehen können. Wir geben uns aber trotzdem einen Freiraum, indem wir uns respektvoll und vorsichtig nähern. Respekt schützt die Intimsphäre, in der die sensationshungrigen Massenmedien so gern wühlen. Respekt schafft Mitgefühl, weil er einen achtlosen Umgang miteinander verhindert. Respekt ist in einer globalisierten Welt ein Top-Thema. Wer möchte, dass er respektiert wird, muss sich selbst respektieren. Gemobbt wird, wer sich nicht wehrt. Anerkannt, wer sich zu zeigen weiß. Doch umgekehrt entwickelt auch nur der Selbstrespekt, der durch Eltern, Lehrer und Chefs Respekt erfährt. Der Kreislauf von Respekt und Selbstrespekt kennt keinen Anfang und kein Ende. Aber je runder er läuft, desto wohler fühlen wir uns.

Respekt war nie so wertvoll wie heute

Deshalb ist es so wichtig, dass wir gerade in den vielen kleinen Dingen des Alltags respektvoll miteinander umgehen: Kritik so äußern, dass andere ihr Gesicht nicht verlieren, auf E-Mails oder Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter reagieren, uns für Einladungen bedanken, jemandem Platz machen. Auch in der Arbeitswelt, wo der Druck durch ständige Leistungskontrollen steigt und die Hierarchien immer flacher werden, gewinnt Respekt an Bedeutung. Ein Chef, der gute Mitarbeiter durch seine respektlose Art vergrault, ist heute ein Problem für seine Firma.

Die Bürgerrechtsbewegung der farbigen Amerikaner schrieb sich "respect" schon früh auf ihre Fahnen. "All I ask for is a little respect", sang damals Aretha Franklin. Heute starten Unter- nehmensberater, homosexuelle Initiativen oder konfessionelle Gruppen Respekt-Kampagnen, und das saarländische Bildungsministerium erstellt Verhaltensrichtlinien für einen respektvollen Umgang an der Schule. Zu Martin Luther Kings Zeiten ging es um existenzielle Freiheit. Heute geht es schlicht darum, unseren Alltag durch das "soziale Schmiermittel" Respekt angenehmer zu gestalten. Trotzdem: Respekt ist und bleibt unverzichtbar. Und vielleicht war es schon immer so, aber gerade kommt es uns wieder so vor: Respekt war nie so wertvoll wie heute.

Oskar Holzberg, Paartherapeut und BRIGITTE-Psychologe, hat seine Praxis in Hamburg.

Text: Oskar HolzbergFoto: Getty Images

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