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Geliebtes Doppelleben

Frau am Laptop mit Kind auf Arm
© Natalia Lebedinskaia / Shutterstock
Viele berufstätige Mütter haben ein dauerhaft schlechtes Gewissen, weil sie weder 24 Stunden am Tag für ihre Kinder da sind noch für ihren Job. Warum eigentlich?

Wie mache ich das mit Kind und Arbeit? Geht das überhaupt?" Das haben sich fast alle Mütter irgendwann gefragt. Auch Dagmar Reiß-Fechter. Aber für sie war die Antwort klar: "Das muss gehen." Die Juristin war mitten in ihrer Referendarzeit, als sie zum ersten Mal schwanger wurde.

Jetzt zu Hause bleiben? Mit so einer Ausbildung? "Da hätten doch alle in meiner Umgebung den Kopf geschüttelt." Als Erste ihre Mutter, die eine Kantine leitete und ihrer Tochter das Studium finanziert hatte. Dann die Großmutter, die als Köchin immer ein eigenes Einkommen hatte. Dagmar Reiß- Fechter hat schon in der Kindheit gelernt: Frauen, auch Mütter, gehen zur Arbeit, genau wie die Männer. Das wollte sie genauso: "Meinem Mann habe ich von Anfang an gesagt: Er kriegt mich nur mit meinem Beruf." Mit ihrem Lebensmodell war die heute 54-Jährige in den 70er Jahren eine Exotin. Exotisch wirkte auf viele auch ihr Mann, der mit ihr der Meinung war: Kinderbetreuung ist Sache beider Eltern.

Als Fotoreporter arbeitete Hans-Rainer Fechter meist abends, tagsüber kümmerte er sich um die beiden Töchter. Nachmittags half ihm ein Kindermädchen, und am Abend kam seine Frau pünktlich aus dem Büro gespurtet, um ihn abzulösen. Oft war das Maßarbeit auf die Minute. Hinzu kam, dass die junge Mutter anfangs zwischen mehreren Beschäftigungen hin- und herruderte: Neben ihrer Tätigkeit als Referendarin bereitete sie sich auf ihr Staatsexamen vor und war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni. Sogar an den Weihnachtstagen lernte sie für die Klausuren, neben sich den Kinderwagen mit der neugeborenen Tochter Marthe, und unterm Christbaum türmten sich 160 Seminararbeiten zum Korrigieren.

Erst später, mit zwei kleinen Kindern, hat sie sich zum Prinzip gemacht: keine Arbeit mit nach Hause nehmen. Obwohl die Verantwortung immer größer wurde. Die Juristin stieg zur Oberkirchenanwältin auf, dann zur Geschäftsführerin mit 150 Mitarbeitern und 70-Stunden-Arbeitswoche. Aber daheim war sie ausschließlich Mutter. "Sonst verzettelt man sich."

"Was für ein Stress", sagen viele, wenn Dagmar Reiß-Fechter, inzwischen Geschäftsführerin eines Wohnungsbauunternehmens, heute davon erzählt. Stimmt: Der Alltag einer berufstätigen Mutter wird leicht zur Zerreißprobe. Morgens vor dem Job die erste "Schicht" zu Hause: "Schnell, Kinder, wir kommen zu spät." Durch den Arbeitstag jagen und abends vom Büro wieder nach Hause. Nur selten Zeit haben für einen Kneipenabend mit Kolleginnen oder Freundinnen, für Sport, Theater, Lesen. Immer irgendwo gebraucht werden, wo man gerade nicht ist.

Entscheidung für ein Doppelleben: Job und Kinder

Je kleiner die Kinder, desto größer das schlechte Gewissen – gegenüber der Familie genauso wie gegenüber dem Arbeitgeber. Weil niemand gleichzeitig 24-Stunden-Mutter und jederzeit verfügbare Arbeitskraft sein kann. All das verträgt sich nicht mit dem Anspruch vieler Frauen, überall perfekt zu sein. Und was antwortet man auf Fragen und Kommentare wie: "Warum tust du dir das an? Das muss doch die Hölle sein!" "Ach was", sagt Dagmar Reiß- Fechter. Sie würde sich jederzeit wieder für das Doppelleben als Karriere- und Familienfrau entscheiden: "Ich war plötzlich viel lockerer im Job", erinnert sich die 54-Jährige. Ihre Aufgaben nahm sie ernst, aber Konflikte nicht mehr so persönlich. Ihr erster Chef misstraute ihr: "Eine Frau in verantwortungsvoller Position konnte er ohnehin nur schwer ertragen. Und dann noch eine arbeitende Mutter? Das war ihm suspekt." Der Vorgesetzte beäugte jeden Handgriff, fragte hinter ihrem Rücken nach, ob andere mit ihr zufrieden seien.

Sie hat das von sich abprallen lassen: "An meiner Arbeit gab es nichts auszusetzen. Er hatte ein Problem, nicht ich." Und sie hatte ja noch ihr zweites Leben. Manchmal ist sie regelrecht von einem ins andere geflüchtet. Wenn abends ein Geschäftsessen anstand, war sie froh, sich "von den vielen grauen Herren" schnell wieder verabschieden zu können: "Meine Kinder warten zu Hause." Umgekehrt ging sie nur zu gern ins Büro, wenn die Töchter über das Essen, das Wetter oder einfach aus schlechter Laune quengelten.

Heute ist Dagmar Reiß-Fechter "stolz auf meine zwei Mädels", die ihr eigenes Leben aufbauen. Und sie ermutigt ihre Mitarbeiterinnen mit Familie, im Beruf am Ball zu bleiben. Von den Frauen in ihrer Umgebung weiß sie aber, dass viele hadern. Die Vollzeit-Familienfrauen fragen sich: Verpasse ich womöglich den Anschluss im Job? Wird die Rente später reichen? Die Nonstop-Arbeiterinnen dagegen zweifeln: Kümmere ich mich genug um die Familie? Schadet es meinem Kind auch nicht, dass ich tagsüber nicht da bin?

Natürlich bleibt im Alltag einiges auf der Strecke, sagt die Managerin. Solange es nicht um Lebenswichtiges ging, hat Dagmar Reiß- Fechter das immer gelassen gesehen: "Der Haushalt war mir unwichtig, da hatte ich nie den Anspruch, perfekt zu sein. Ich war auch keine Übermutter." Genau das mögen ihre Töchter. "Das war gerade richtig so", sagt Marthe, die Ältere. "Ich kann es bis heute nicht leiden, wenn mir jemand ständig über die Schulter guckt. Wir konnten nachmittags tun, was wir wollten, und haben gelernt, Verantwortung für uns zu übernehmen. Aber du warst trotzdem immer für uns da, vom Gefühl her jedenfalls."

Ich will auch Anerkennung von außen.

Hätte ihr die Mutter nicht vorgelebt, wie sich Familie und Beruf vereinbaren lassen, "dann hätte ich mir das nicht zugetraut", sagt die Tochter Marthe stolz. Ihre Kinder Benedikt und Lena sind auf die Welt gekommen, als sie mitten im BWL-Studium steckte. Das war geplant. Die Frage "Wie mache ich das mit Kind und Arbeit?" hat sich die 28- Jährige gar nicht mehr gestellt. Sie wusste ja von ihrer Mutter, wie es geht. Dieses Lebensmodell liegt sozusagen in der Familie, bestätigt Eike Ostendorf vom Verband berufstätiger Mütter." Wenn eine Mutter in ihrem Beruf weiterarbeitet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Tochter es später genauso macht." Zwar führt Marthe ihr Studium jetzt als Fernstudium zu Ende, doch zusätzlich leitet sie mit Mann und Schwiegermutter ein Hotel. "Ich könnte auf keinen Fall nur zu Hause sein. Ich will auch Anerkennung von außen", sagt sie.

Was arbeitende Mütter eher lernen müssen als andere: loslassen. Sie sind meist nicht dabei, wenn das Kind den ersten Schritt macht, das erste Wort sagt. Manche bedauern das. Andere freuen sich eben über das zweite Wort. So wie Marthe, die für ihren Sohn schon früh einen Kindergartenplatz bekommen hat. Sie weiß ihn bei den Erzieherinnen in guten Händen, und er liebt es, mit den Gleichaltrigen zu spielen.

Doch eine gute Kinderbetreuung in erreichbarer Nähe ist rar. Die meisten Mütter müssen deshalb "ständig diesen Betreuungs-Eiertanz" vollführen, wie Beate Eisinger das nennt. Sie stürzen in Panik aus dem Büro, weil die Krippen eher Feierabend machen als sie selbst – oder reduzieren ihre Stundenzahl.

Als Halbtagskraft ist die Befriedigung im Job auch nur halb

Für Beate Eisinger wäre das nicht in Frage gekommen. "Als Halbtagskraft", sagt sie, "spürt man bei der Arbeit gar nicht die volle Befriedigung: Immer wenn es interessant oder kritisch wird, ist man nicht da." Hinzu kam: In ihrer Ehe brachte sie als Angestellte bei der Industrie- und Handelskammer das sichere Einkommen nach Hause. Ihr Mann Günter hatte, als das erste Kind auf die Welt kam, einen befristeten Vertrag als Redakteur. Der lief bald aus. Für beide war klar: Er würde danach zu Hause bleiben. Aber nicht nur des Geldes wegen: "Ich eigne mich nicht so für die Kindererziehung", sagt die 46-Jährige, "zu wenig Geduld. Bei der Arbeit weiß ich, was ich kann. Aber als Mutter ist man immer Dilettant."

Wäre sie dabei gewesen, als die Kinder mal eine Tüte Mehl verschütteten, sie hätte einen Wutanfall bekommen, sagt sie. Ihr Mann holte die Videokamera raus und filmte die "weiße Pracht" unter dem Küchentisch. Als Günter Mayr-Eisinger kurz nach der Geburt des zweiten Kindes einen unbefristeten Vertrag unterschrieb, brachten die beiden der Umwelt zwei Schocks auf einmal bei, erinnert sich seine Frau: "Günter ging in Erziehungsurlaub, das war der Hammer in seinem Betrieb. Und bei mir im Büro gab es großes Erstaunen, als ich wiederkam."

Zunächst allerdings hat Beate Eisinger sich schwer getan mit ihrer neuen Rolle – vor allem, wenn ein Kind krank wurde: "Dann hat man erst recht ein schlechtes Gewissen und denkt: Ich muss doch bei ihm sein als Mutter." Wirklich? Beim ersten Mal, als gleich beide Kinder krank waren, raste Beate Eisinger aus dem Büro nach Hause, um ihrem Mann zu helfen. Der hatte die Kinder längst ins Bett gepackt und ihnen Tee gekocht: "Die drei kamen wunderbar ohne mich klar."

"Papa war ja da", sagt ihre 13-jährige Tochter Judith. "Wenn beide Eltern an meinem Bett gesessen hätten, wäre ich auch nicht schneller gesund geworden." Ihr 14-jähriger Bruder Matthias findet: "Wir haben es genauso gut wie andere oder sogar besser. Der Papa gibt sich mit uns mehr Mühe als manche Mütter." Auch wenn Beate Eisinger nicht jede Träne abgewischt und nicht jedes Spiel mitgespielt hat – jetzt freut sie sich daran, wie ihre Kinder zu Gesprächspartnern heranwachsen. Am Abendbrottisch geben sie Tipps, wie sie bei unsachlicher Kritik am besten kontert, oder empfehlen ihr ein Outfit für einen wichtigen Termin.

Am Wochenende gönnen sich Mutter und Tochter gern mal "so ein richtiges Weibervergnügen" und gehen "wie zwei Kaffeetanten" in die Chocolaterie. Beate Eisinger genießt beide Leben, das berufliche wie das private.

Erika Kelz hatte jahrzehntelang wenig Zeit zum Genießen. Ihr Mann war Elektriker bei einer Düngemittelfirma und wochentags auf Montage. Sie selbst arbeitete täglich neun Stunden im Büro, auch samstags. Und erledigte nebenbei den Haushalt fast allein. "Aber das war ganz normal", sagt die 61-Jährige lächelnd, "jedenfalls bei uns damals." In der DDR war der Ganztagsberuf für fast alle Frauen selbstverständlich. Und das Einkommen ihres Mannes hätte für die Familie wohl nicht ganz gereicht. "Ich arbeite aber auch gern", schiebt Erika Kelz hinterher. Wenn sie ohne Punkt und Komma vom Büro erzählt und den ehemaligen Kollegen, mit denen sie sich heute noch trifft, glaubt man das sofort. Und sie arbeitet ja auch bis heute. Nach der Wende hat sie mit ihrem Mann ein kleines Sportgeschäft eröffnet. Seit seinem Tod führt sie es allein weiter, obwohl sie schon in Rente gehen könnte. Was die Erwerbstätigkeit angeht, hängen die Mütter in den neuen Bundesländern die Frauen im Westen noch immer mühelos ab, doppelt so viele sind im Beruf. "Mutti hat es richtig gemacht", sagt Erikas Tochter Claudia, heute selbst Mutter von zwei Kindern.

Es ist wichtig, auf eigenen Füssen zu stehen

Claudia ist der Mutter nicht nur äußerlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hat von ihr auch die Einstellung übernommen: "Die Verantwortung für das eigene Leben sollte man nicht aus den Händen geben." Bei der Trennung von ihrem ersten Partner wurde ihr bewusst, wie wichtig es ist, auf eigenen Füßen zu stehen. Deshalb arbeitet Claudia weiter in ihrem Beruf, obwohl viele sagen würden, dass vor allem ihre dreijährige Tochter Luisa sie noch ständig braucht. Und obwohl sie als Vertriebsmitarbeiterin viel reisen muss. Erika Kelz stärkt ihrer Tochter den Rücken.

Was beide aufregt: "Wenn eine Mutter arbeitet, wird sie gefragt, ob sie es nötig hat. Nicht, ob es ihr ein Bedürfnis ist." Und Erika Kelz fragt sich, wo die Väter sind, warum sich erst so wenige im Alltag für ihre Kinder zuständig fühlen: "Workshops für Mütter: ‚So setze ich zu Hause meine Gleichberechtigung durch' – das müsste hier mal jemand anbieten."

Leicht war es für ihre Mutter nicht zwischen Partnerschaft, den Kindern, dem Beruf, zwischen all den Leben. "Alles nur eine Frage der Disziplin", sagt Dagmar Reiß-Fechter energisch. "Ich muss schnell noch eine E-Mail verschicken, geht das?", sagt sie manchmal gleich zur Begrüßung, wenn sie ihre Tochter besucht. "So kenne ich dich", sagt Marthe dann grinsend. "Du bist unglaublich organisiert." Das musste die Mutter früher auch sein, hat ihren oft minutengenau durchgetakteten Alltag aber auch genossen: "Morgens mit den Kindern spielen, mittags ein Gespräch über eine Bausumme von zehn Millionen führen und anschließend eine Sozialmieterin beruhigen. Das war mein Lebenselixier", sagt sie.

Text: Nadine Oberhuber

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