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Frauen zwischen zwei Welten

Diese Frauen tragen zwei Welten in sich und schlagen Brücken zwischen den Kulturen. Zu Hause sind sie in Deutschland.

Zuwanderung – das klingt meist nach Problemen. Dabei gibt es längst auch die andere Seite: Menschen, die vor Jahren zu uns kamen und sich hier zu Hause fühlen, die ihre Chancen nutzten und in stabiler Währung zurückgeben – als Leistung, kulturelle Bereicherung, Zuneigung. Oft sind es die Töchter der ersten Gastarbeiter-Generation, die heute als Ingenieurin, Betriebswirtin oder Künstlerin arbeiten. Diese Frauen mit ihren weit verzweigten Wurzeln haben vom Fleiß ihrer Eltern profitiert und von deren Willen, ihren Kindern die Fabrikarbeit möglichst zu ersparen.

Sie sprechen perfekt deutsch, haben nach und nach die moralischen und religiösen Vorstellungen ihrer Herkunftskultur erweitert. Und eben das hat sie stark gemacht: Sie sind darin geübt, Konflikte auszuhalten und sich Fremdes vertraut zu machen. Gerade die heute 40- bis 50-jährigen Frauen haben sich meist sehr bewusst von den traditionellen Rollen gelöst. "Oft mehr als manche deutsche Frau", bestätigt die Migrationsforscherin Yasemin Karakasoglu von der Universität Bremen. Damit besitzen sie "multikulturelle Kompetenz" – die wichtigste Qualifikation in einer globalisierten Welt.

Sie könnten fast Deutsche sein – aber eben nur fast

Mehr als eine halbe Million Migrantinnen dieser Altersgruppe leben hier, aus verschiedensten Ländern. Viele mussten den Kulturwechsel als Kind verkraften, mit allen damit verknüpften emotionalen Lasten: Sehnsucht nach den Orten und Menschen der Kindheit, Einsamkeitsgefühlen in der fremden Umgebung sowie der Erkenntnis, dass viele erlernte Werte plötzlich nicht mehr gelten. Die nach türkischer Sitte streng behütete Nilgün etwa fühlte sich in Berlin manchmal allein, weil sie keine Klassenfahrt mitmachen durfte. Oder Anthoula, die Griechin: Sie erinnert sich noch, wie sie als Studentin abweisende Blicke der Kommilitonen erntete, weil sie zu lebhaft diskutierte. Heute steht sie zum Glück wieder zu ihrem Temperament.

Das Klischee, dass Ausländerinnen Putzfrauen sind, ist falsch.

Für ihre eigenen Töchter verkörpern die Frauen neue weibliche Vorbilder: engagiert im Beruf und familienorientiert. Viele haben den deutschen Pass, schalten sich in Gesellschaft und Politik ein. Sie könnten fast Deutsche sein – aber eben nur fast: Denn sie leben zugleich die eigene Tradition, sind Botschafterinnen in beiden Ländern, schlagen Brücken zwischen den Kulturen. "Ich beschäftige mich auf der Bühne mit Flüchtlingsthemen und Rassismus", sagt die mehrfach ausgezeichnete Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Adriana Altaras, 47, "weil ich selbst fremd war. Das ist kein Minderheitenproblem, denn ich bin keine Minderheit." Als Schauspielerin sollte sie früher oft die immer gleiche Rolle spielen: "Vor allem habe ich geputzt, aber das mach ich nicht mehr. Das Klischee, dass alle Ausländerinnen Putzfrauen sind, ist so demütigend. Weil es nicht stimmt."

Ming Chai, China

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Die Pianistin Ming Chai, 54, verließ China als Erwachsene. An einem Hamburger Gymnasium lehrt sie Mandarin und Musik.

In ihrem Lebenslauf spiegeln sich die politischen Umbrüche der Volksrepublik China: Ming Chai, Intellektuellenkind in Peking, entdeckt das Klavier, kommt in die Wunderkind-Klasse an der Chinesischen Zentralen Musikhochschule. Und erlebt dann, wie die Kulturrevolution unter Mao Tse-tung zunächst ihren Traum zerstört: Ming wird "zur Umerziehung" ins Militärarbeitslager verschickt.

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Die 15-Jährige schuftet auf Maisfeldern, schläft bei minus 40 Grad im Zelt. Erst nach Maos Tod, 1976, kehrt Ming zurück an die Musikhochschule: als Studentin, später als Musikwissenschaftlerin und Dozentin. Als Belohnung für ihre Leistungen erhält sie ein Promotionsstipendium für Deutschland; 1985 wagt sie den großen Sprung. Ihr Mann begleitet sie, Ming studiert, kümmert sich um Raimon und An Ying, die Kinder. Die Ehe kriselt, man trennt sich als Freunde – "Scheidung auf chinesische Art", lächelt Ming. Heute besitzt sie den deutschen Pass, unterrichtet Musik und Mandarin (Hochchinesisch) an einem Gymnasium und ist in zweiter Ehe verheiratet, mit Rodger, der im Außenhandel arbeitet.

Später, im Alter, möchte sie mit ihm nach China, dort ihren Erfahrungsschatz aus Schule und Bildung einbringen: "Bei uns sagt man, wenn die Blätter fallen, gehen sie zu den Wurzeln zurück."

Koko N’Diabi Affo-Tenin, Togo

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Koko N’Diabi Affo-Tenin, 48, lebt mit ihrem Mann in Potsdam. Das Ehepaar leitet eine Hausverwaltung in Berlin. Potsdam – kein ungefährliches Pflaster für Afrikaner. Koko N'Diabi Roubatou Affo-Tenin kann ihre Herkunft nicht verbergen, allerdings läge ihr auch nichts ferner: Ihr Haar, in Zöpfchen geflochten, bindet die Togoerin auf dem Rücken zusammen; in ihrem Kleid leuchtet sie farbenfroh inmitten hellgrauer Häuser. Ihr deutscher Mann habe sich früher gewünscht, dass sie Miniröcke trage. "Aber ich trage nur afrikanische Kleidung, weil ich mich darin wohl fühle." Ihr zweiter Name, N'Diabi, heißt in etwa "Ich bin die Größte". Ihr dritter, "Roubatou", "die Beliebte" – Namen, die gute Begleiter waren auf Kokos Weg.

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Zweimal floh sie vor der eigenen Familie: Wanderarbeiter, die das Mädchen an einen Fremden verheiraten wollten. Sie besucht in der nächsten Stadt die Schule, wird schwanger, muss für den kleinen Salem sorgen, verkauft Feuerholz und selbst gebackene Kekse. Aber Koko will mehr. Nach einer Odyssee durch die Wüste und übers Meer erreicht sie ihr Traumziel Berlin, studiert Betriebswirtschaft. Heute leitet sie mit ihrem Mann eine Hausverwaltung in Berlin; ihr Sohn ist Ingenieur, Koko fühlt sich zu Hause: "Ich hatte Glück, Diskriminierung habe ich nicht erlebt. Noch nicht", fügt sie nachdenklich an. Ihr Selbstbewusstsein ist vielleicht der beste Schutz: "Ich bin Deutsch-Afrikanerin und will zeigen, dass Deutschland nicht nur blond und blauäugig ist." Vor ein paar Jahren gründete sie den Verein "Bildung für Balanka", fliegt jährlich nach Togo, bringt Bücher, Geld, Rollstühle für Behinderte. Auf den Fotos steht sie umringt von Kindern, in Kleidern wie aus einem Märchen, vor der Dorfschule, in der sie einst lesen und schreiben gelernt hat.

Kumari Beyer-Ranashinge, Sri Lanka

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Kumari Beyer- Ranashinge aus Sri Lanka, 54, hat ein Teegeschäft in Bremen – und ein Diplom in Sozialpädagogik. Im Laden der Duft von Orangen, Ingwer, 160 Teesorten. "Meine Kunden möchten nicht nur kaufen, sie wollen reden", sagt Kumari, Teehändlerin und Sozialpädagogin. Etwa jener Mann, der nach dem Tod seiner Frau jede Woche bei ihr weinte und nach buddhistischen Wegen aus der Trauer fragte. Deshalb liebt Kumari ihr Geschäft, im Viertel gilt es als Institution.

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Als sie Ende 2004 eine Aktion für Tsunami-Opfer in Sri Lanka ins Leben ruft, spenden viele. Fünf Boote kauft sie für Fischer, finanziert der zwölfjährigen erblindeten Shirani den Schulbesuch. Kumaris Band zu Eltern und Geschwistern in Colombo ist eng. Sie war 19, als sie nach Deutschland ging. "Am 4. Januar", weiß sie noch, "kam ich im dünnen Sari in Erlangen an, ein Sturz von 35 auf drei Grad." Dass sie Wurzeln schlägt, liegt an Horst, dem Doktoranden. Mit ihm geht sie nach Bremen, ihr Studienschwerpunkt: Kinderpsychologie. Nach der Heirat bleibt sie daheim bei Ranil und Manori, den eigenen Kindern. Bis eine Freundin ihr den Laden anbietet. Ihre Tochter, angehende Ärztin, trägt gern Saris, die sechs Meter langen Seidentücher. "Nur ich komme mir heut darin fast komisch vor", sagt Kumari.

Mona Ragy Enayat, Ägypten

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1988 kam die Ägypterin Mona Ragy Enayat, 42, in die DDR und erlebte deren Ende. Die Künstlerin arbeitet und unterrichtet in Leipzig. In ihrem Atelier unterm Dach stehen Töpfe mit Stiften, Farbpaletten, Rahmen – und natürlich ihre Bilder. Frauen sind darauf, biegsam wie Wasserpflanzen, Hände, Füße, dazu Symbole: Katzen, Fische, Vögel, Augen. Urwaldgrün, Kobaltblau, Glutrot. "Die Welt ist bunt" ist das Credo der Malerin, Musikerin und Lehrerin Mona Ragy Enayat: beim Kunstunterricht in der Grundschule, im Workshop mit Erwachsenen – und im Leben. Die gebürtige Muslimin besuchte in Kairo einen katholischen Kindergarten und die französische Schule, bevor sie Kunstgeschichte und Malerei studierte.

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1988 wechselte sie an die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Bald begleitet Mona die deutschen Freunde zu den Montagsdemos, erlebt das Ende der DDR, den Wandel, den sie aktiv mitgestaltet. Für Gerechtigkeit und Freiheit engagiert sie sich seit jeher, vor allem für Frauenrechte. Auch, damit ihre neunjährige Tochter Lou Laila-Aspasia später wählen kann, wie sie leben möchte. "Die schlimmste Form des Schleiers ist das Schweigen", sagt Mona. Vier Sprachen spricht die renommierte Künstlerin fließend, Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch – die beste Voraussetzung, um zwischen den Kulturen zu vermitteln. Oft fliegt sie nach Kairo und unterrichtet an der Partnerschule. "Ich bin eine Grenzgängerin, dort bin dann ich die Deutsche."

Anthoula Kapnidou, Griechenland

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Anthoula Kapnidou, 41, kam als Fünfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland. Die Innenarchitektin bringt griechisches Flair an den Niederrhein. Als sie die knallrot lackierte Tür ihres Hauses öffnet, fällt der Blick auf die getünchte Wand, an der gelbe und weiße Kletterblumen ranken. Davor Holzbänke, Mosaiktisch, Töpfe mit duftendem Thymian und Rosmarin – ein Hauch Naxos im verregneten Nettetal am Niederrhein.

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Die lichten Farben und der Baustil der griechischen Heimat haben die Innenarchitektin seit jeher inspiriert. Familiär, klar, einfach: Nach diesem Prinzip gestaltet sie ihre Objekte. Auf ihrem Flyer zitiert sie jedoch den deutschen Dichter Christian Morgenstern: "Schön ist alles, was man mit Liebe betrachtet." Für die Kunden entwirft sie Bäder, Büroräume, Bars; ihrem Bruder hat sie zwei griechische Bistros gestaltet. Sie war fünf, als die Familie nach Deutschland kam.

Die Migranten-Gemeinschaft lebte für sich und funktionierte perfekt, mit Lehrern aus der Heimat und festen Wertmaßstäben. Nur drum herum war alles anders – deutsch. Lange Jahre fühlte Anthoula sich hin- und gerissen zwischen zwei Welten. Fragte sich, ob sie falsch tickt oder die anderen. Heute versteht sie, dass sie zwei Seelen in sich trägt: "Wäre ich ein Riese, stünde ich mit einem Bein auf einer Ägäisinsel und mit dem anderen hier."

Nilgün Aydinli, Türkei

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Nilgün Aydinli, 48, ist Ingenieurin in Berlin. Seit 17 Jahren konstruiert die Mutter zweier Söhne Schienenfahrzeuge. Ihre Erinnerung an die Kindheit in Südostanatolien: ein Sommerabend, Klappstühle im Freiluft-Kino, die Leinwand, davor sie selbst. Hingerissen von den bewegten Bildern, bis sie einschläft – oder nur so tut, denn das Schönste kommt zum Schluss: Ihr Vater, der Filmvorführer, nimmt sein Töchterchen auf den Arm und trägt es heim. Cinema Paradiso für Nilgün.

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Sie ist zehn, als der Vater stirbt. Mit zwölf landet die Halbwaise im schwäbischen 300-Seelen-Kaff Hochdorf, danach in Berlin. Die Mutter schneidert Kleider, bringt so die Familie durch; Nilgün, liebevoll- streng behütet vom älteren Bruder, fühlt sich oft allein. Und dann, während des Ingenieurstudiums (Fachrichtung: Raumfahrt), schafft es die zierliche Türkin, ihre verborgene Seite freizulassen: die freche, mutige, abenteuerlustige. Tanzen, Flirten, sogar Segelfliegen – heimlich.

"In mir steckte immer etwas Durchgedrehtes", lacht sie, spielt mit den Händen in ihren Locken. Als sie Motorrad fahren lernt, will ihr Bruder das verbieten; zum bestandenen Führerschein schenkt er ihr dann doch eine gebrauchte Yamaha. Schienenfahrzeuge, vom Entwurf bis zum Bau, gestaltet die Ingenieurin in der Firma, in der sie angestellt ist. Zu Hause hat sich ihr türkischer Ehemann Sirri daran gewöhnt, die zwei Söhne auch mal allein zu versorgen, weil Nilgün ab und zu gern mit ihren Freundinnen verreist: "Ich spare schon auf ein neues Motorrad."

Genka Lapön, Bulgarien

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Ihrer guten Schulnoten wegen schickten die Eltern sie auf eine deutschsprachige Schule. Heute leitet die Bulgarin Genka Lapön, 48, die Gleichstellungsstelle der Stadt Leipzig. Dreimal ist Genka Lapön in Deutschland angekommen: 1975 in Schwarzenberg im Erzgebirge, für drei Wochen im sozialistischen Schüleraustausch. 1979, mit 21 Jahren, zum Studium in der DDR. Und schließlich 1990 im geeinten Deutschland. In den Jahren dazwischen verliebt sich Genka, das Energiebündel, in ihren künftigen Ehemann, legt eine glänzende Karriere hin, dirigiert zum Schluss die Datenverarbeitung für 26 Betriebe für Oberbekleidung in der DDR. Wie gerät das Mädchen aus einem Dorf in der Nähe der Stadt Plovdiv ausgerechnet an Kybernetik und Informationstechnik?

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"Ich habe immer davon geträumt, eine mathematische Formel zu erfinden." Die Wende bringt das Aus für die DDR-Textilindustrie. Genka Lapön lernt jetzt andere Formeln: Abwicklung, Outsourcing, Arbeitsamt. Aber sie bleibt am Ball, macht ihre zweite Karriere: als EDV-Dozentin in einem Frauenprojekt und ab1995 als Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Leipzig. "Das Wichtigste", sagt sie,"ist das Recht auf die eigene Persönlichkeit, egal, ob Frau oder Flüchtling."

Sie fühlt sich zu Hause in Deutschland. Für den Brückenschlag in die Kindheit genügt ihr ein deftiges Essen, weiße Bohnen mit Speck. Und ein Souvenir ihrer Lieblingsoma: "Eine Goldmünze im Wollstrumpf, die in Familien traditionell nur von Frau zu Frau weitergegeben wird."

Caterina Berbenni, Italien

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Caterina Berbenni, 54, leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein eigenes Technologie- Unternehmen. Als sie mit 26 Jahren von Bergamo nach Frankfurt zieht, will sie nach langen, familiär behüteten Jahren beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen kann. Sie studiert, promoviert, arbeitet im Marketing eines Süßwarenkonzerns. Heute leitet Dr. Caterina Berbenni-Rehm mit ihrem deutschen Mann ihre eigene Firma, ein international agierendes Technologie- Unternehmen.

Gern lädt Caterina ihre Mitarbeiter zu sich ein. Dann kochen Türken, Moldawier, Argentinier, Italiener und Deutsche gemeinsam Pasta all'insalata, "aber nur im Sommer, sonst haben die frischen Zutaten nicht genug Aroma", betont die leidenschaftliche Köchin. Privat und in der Arbeit, lobt sie, seien Italiener und Deutsche ein Erfolgsteam: "Wir Italiener sind impulsiv und besitzen Kreativität, die Deutschen Pragmatismus und Zuverlässigkeit – eine perfekte Ehe!"

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Der Esstisch ist auch Mittelpunkt des Familienlebens. "Ich koche, selbst im größten Berufsstress, und mindestens einmal am Tag essen wir gemeinsam. Das ist mir heilig." Vor allem, seit Michael da ist, ihr "Sonnenschein". Vor 20 Jahren haben Caterina und ihr Mann das peruanische Waisenkind adoptiert. Heute ist der kleine Junge von einst ein Weltbürger – drei Mentalitäten, vier Sprachen. Deutsch, Englisch, Peruanisch. Und Italienisch wie die Mama.

Text: Ulrike Petzold<br/><br/>Fotos: Anne Eickenberg, Sebastian Hänel, Hauke Dressler, Jörg Gläscher, Frank Beer

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