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In Würde altern

Manchmal kostet es vielleicht Überwindung, sich zu seinem Alter zu bekennen und in Würde zu altern. Aber es kann auch ganz viel Spaß machen!

Es war wirklich eine lustige und unterhaltsame Runde am Abend gewesen. Und, wie es immer häufiger der Fall ist, gehörte man eher zu den älteren Gästen. Nicht dass es aufgefallen wäre, man hatte sich lebhaft und sprühend an den verschiedensten Themen beteiligt. "Gibt es heute noch Handarbeitsunterricht?", fragte ich plötzlich bei dem Thema Bildung und Schule, und schon sah ich Kreuzstich, Hohlsaum und die komplizierte viernadelige Stricksocke geradezu aus einem runden Handarbeitskorb herauslugen. "Nee", sagte eine junge Frau und sah mich erstaunt an. Da der Abend lang war, schaffte ich es, "Bonanza", Hula-Hoop- Reifen, Lippenweiß, Prickel-Pit, Nyltest-Hemden, LSD und die Sängerin Lulu unterzubringen.

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Dann kam der Moment, als ich begeistert rief: "Als Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger eine klebte, das war mein Moment!" und merkte, dass keiner der Anwesenden so richtig mitzog, weil sie sich wahrscheinlich zu der Zeit – im Jahr 1968 – mit einem Beißring auf der Wickelkommode amüsiert hatten.

Ich sah plötzlich ihr Hirn rattern. Das gibt es doch nicht. Wie alt kann die sein? Die sieht doch viel zu jung aus! Manchmal, wenn man sich mit fremden Leuten oder auch Freunden selbst von unvergesslichen Erfahrungen, Impressionen und Erinnerungen reden hört, die ganz schön viele Jahrzehnte umspannen, dann wird einem bewusst, wen oder was man alles schon gesehen, gehört, geliebt, gehasst hat, und es ist ein großer Reichtum, ja Privatschatz, der sich da auftut. Warum soll man den nicht teilen?

Ich habe eine Freundin, die mir befahl, mich jeglicher Schilderungen von Trümmergrundstücken, Kohlen klauenden Kindern und Nissenhütten zu enthalten. Das sei einfach uncool und würde mich und mein biblisches Alter "verraten". Aber wäre ich dann nicht vielmehr eine Verräterin meiner Zeit?

In Würde altern ist ganz einfach

Etwas raffiniert sein, ein bisschen lügen, ein bisschen weglassen, das könnte man doch machen, so ab 50 Jahren aufwärts. Und zu einer alterslosen, leicht geheimnisvollen Persönlichkeit werden. Bevor man sich unbemerkt aufs spontan plappernde Glatteis begibt, einfach blitzschnell alle prägenden Daten und Ereignisse durchrechnen und nur ganz vage allgemeine Dinge ansprechen, die einen nicht unbedingt zur Zeitzeugin machen.

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Solche Unterhaltungen können aber anstrengender sein, als zwei Sitzungen mit Fragen von Günther Jauch, weil man sich schnell in Widersprüche verwickeln kann. Mal ist man Teenager, als Nietenhosen skandalös waren, dann aber erinnert man sich nicht an die erste Mondlandung – 1969 –, weil man sich mit dem koketten Einwurf "Da spielte ich noch in der Sandkiste" retten will.

Viele Frauen sehen leider eine Liebe zum Geburtsjahr als risikoreiche Angelegenheit und halten es für taktisch erfolgreicher, ihre mühsam präservierte Jugendlichkeit beruflich und privat auszuspielen. Aber ist es nicht viel schöner, wenn man die Zuhörer dazu kriegt, verwundert nachzurechnen und zu überlegen, wie alt denn diese lebendige, attraktive Person bloß sein kann, anstatt dass im Vorfeld schon die Jahre abgesäbelt und zensiert werden, bevor sie sich richtig entfalten können? Sich für jemand anderes auszugeben gleicht der Rolle einer Falschspielerin – und ist gleichzeitig Selbstbetrug.

Jedes Leben hat seine Highlights, private, historische, einige erzeugen lebenslang Glücksgefühle und eine irrationale Dankbarkeit. Zu einer Generation zu gehören kann ein sehr starkes und wichtiges Identitätsgefühl sein, es definiert das ganze Leben. Warum soll man seine Erfahrungen verleugnen und sich das Vergnügen, ein Kind seiner Zeit zu sein, versagen? Man könnte eigentlich ebenso gut das Gegenteil empfinden lernen. Gerade die zwischen 1946 und 1960 Geborenen werden zwar gern von den darauf folgenden Generationen der grandiosen Wichtigtuerei und Nabelbeschau beschuldigt, aber es sind nun mal Jahrzehnte mit Ereignissen, die so stark zwei Generationen geformt haben, dass man sehr wohl damit angeben kann, wenn man hier und da zu den Ersten der Stunde gehört, für erste Coca- Colas, erste Petticoats, erste Miniröcke, erste Demos, erste Antibabypillen, erste Popkonzerte.

In Würde altern: Wer kann schon sagen: "Ich war bei den Beatles."?

Ich gehöre zu den Glückskindern, so sehe ich es jedenfalls, die nicht nur Jimi Hendrix haben spielen sehen, sondern beim letzten Konzert der Beatles dabei waren. Und das soll ich verschweigen?

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Im Gegenteil. Sie sind einer meiner Trümpfe, die ich ausspiele. "Sie meinen, als Baby waren Sie da?", scherzte dann auch ein recht junger Mann, der dabei derartig neidisch guckte, dass es mir wirklich nicht leidtat, mich so auf einen zeitlichen Repräsentierteller gesetzt zu haben. Alterslügen haben heutzutage ja nicht unbedingt kurze Beine, vielmehr ist es aufgrund unser aller Jugendlichkeit ziemlich einfach, ein paar Jahre wegzuradieren – so wie mit dem alten rosa Radiergummi eine zu krakelige Schönschrift für die selbst gemalte Muttertagskarte. Dabei fallen mir die Griffel und Schiefertafeln der ersten Klasse ein und das quietschende Geräusch, das noch heute eine Gänsehaut bei mir erzeugt. Und diese braunen Lederschulranzen und die Brottaschen mit Schnappverschluss...

Als Vertreterin einer sehr gut erhaltenen Generation hat man die Verpflichtung, nicht zu lügen oder im Fahrwasser jüngerer Generationen zu schwimmen. Vielleicht kostet es Überwindung, sich zu seinem Alter zu bekennen, ebenso wie zu einem schwarzen Schaf in der Familie, aber es macht uns freier. Authentizität ist nämlich ein sehr attraktiver Wesenszug. "Herumtoben im Leben und dort Purzelbäume schlagen", das wollte Franziska zu Reventlow schon vor über 100 Jahren. Sie wurde zwar nur 49, hätte sich aber sicherlich nicht ihre Lebensfreude und ihre Erfahrungen zensieren lassen. Wer intensiv lebt, hat viel zu erzählen, und die Verleugnung von prallem Leben und Zeitgeist, immerhin selbst mitgeprägt, kommt nicht infrage.

ZUM WEITERLESEN: Was passiert, wenn wir ein typisches Verhalten verändern? Wie können wir unser Verhaltensrepertoire erweitern und zurück zum Selbst finden? Diese und viele andere spannende Persönlichkeitsaspekte hat die Diplompsychologin Brigitte Roser in einem lesenswerten Sachbuch zusammengefasst:

"Das Ende der Ausreden", 350 Seiten, 16,95 Euro, BRIGITTE-Buch im Diana Verlag

Text: Sabine Reichel<br/><br/>Fotos: privat (3)

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