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Schluss mit dem Jammern

Zu viel Stress. Zu wenig Freizeit. Zu oft Nerverei mit dem Chef. Ab Mitte 40 wird schon gerechnet: Wann ist endlich Schluss damit? Ursula Ott kann das nicht mehr hören.

Die Frage traf mich unerwartet. "Wie lange musst du denn noch?", fragte mich eine Mit-Turnerin, mit der ich montagabends im Sportclub "Alpenrose" die Matte teile. Sie meinte nicht etwa: Wie lange musst du noch deine Wohnung abbezahlen? Oder: Wie lange musst du noch zur Krankengymnastik? Nein, sie meinte: Wie lange musst du noch arbeiten? So, als sei Arbeiten eine lästige Pflicht, die man schnell hinter sich bringen will.

Dabei sind wir beide - die Sportskameradin und ich - weit weg vom Rentenalter und gut in Schuss. "Du, ich arbeite gern", sagte ich und merkte gleich: falsche Antwort. Wer punkten will, muss seinen Job schlechtreden. Ätzender Chef, üble Kolleginnen, weiter Arbeitsweg, irgendwas findet sich bestimmt. Immer öfter höre ich, dass Frauen in meinem Alter schon mal ausrechnen, ab wann die Kombination aus Investmentfonds, Lebensversicherung und Rente ausreicht, um die Beine hochzulegen. Sind die eigentlich bescheuert? Ich lebe doch nicht 25 Jahre lang das falsche Leben, nur um dann eine - theoretische - Chance auf Glück zu haben.

Lebenszeit ist zu schade für Widerwillen.

Ich bin übrigens auch gern zur Schule gegangen. Auch nicht sexy, weiß schon. Erzähl, dass du mit 14 von der Schule geflogen bist, und du bist cool. Erzähl, dass du eine gute Schülerin warst, und du bist eine Streberin. Forscher wissen längst, dass Mädchen in der Pubertät ihre Leistungen schlechtreden, um bei den Jungs anzukommen. Das Milchmädchen, das nicht rechnen kann, hat leider immer noch bessere Karten als die Siegerin beim Bundeswettbewerb Mathematik. Aber mir war meine Lebenszeit zu schade, um sie mit Widerwillen zu verbringen. Es waren immerhin die fittesten Stunden meines Wachzustands, die ich im Unterricht verbrachte, also konnte ich mich genauso gut beteiligen. Hat sich natürlich bei den Noten bemerkbar gemacht.

Klar, es war nicht alles toll. Wir hatten einen Sportlehrer, der wasserscheue Kinder ins kalte Becken schmiss - auch mich. Später, als der Lehrer aus purer Bösartigkeit einem Mitschüler den Punkt verweigerte, der ihm zur Abi-Zulassung fehlte, organisierten wir Demos, boykottierten den Unterricht. Der Mann wurde versetzt.

"Love it, change it or leave it", sagen die Amerikaner. Aber wer gibt heute schon einen Job auf? Der "Fluktuationsstau" ist nach Ansicht der Betriebswirtschaftler Wenzel Matiaske und Thomas Mellewigt der Hauptgrund dafür, dass so viele Menschen unzufrieden sind an ihrem Arbeitsplatz: Sie bleiben, obwohl sie innerlich vielleicht längst gekündigt haben. Machen Dienst nach Vorschrift. Und rechnen permanent aus, wie lange sie noch "müssen". Der Vater eines Freundes wurde als Lehrer mit 42 frühpensioniert. Heute berät er Kollegen,wie sie beim Amtsarzt einen Antrag auf Dienstunfähigkeit durchkriegen können. Nicht auszumalen, wie lebendig unsere Schulen sein könnten, wenn dort nur Menschen arbeiteten, die ihren Job lieben.

Nein, ich will nicht frühpensioniert werden. Da würde ich doch auf so viel Glück verzichten. Es gibt Momente im Job, die vergisst man nicht. Ich weiß noch, wie stolz ich mit 22 war, als mein Name auf allen Titelseiten stand - ich durfte als junge Gerichtsreporterin über einen spektakulären Entführungsprozess berichten, weil der erfahrene Kollege krank geworden war. Auch spüre ich noch den Geschmack des sündteuren Teriyaki, mit dem wir uns dafür belohnten, dass wir in der Emma-Redaktion innerhalb von nur vier Wochen ein hochkarätiges Buch zum Islam aus dem Boden gestampft hatten. Über 20 Jahre, sagen die Hamburger Psychologinnen Simone Meiler und Antje Ducki, bleiben Glückserlebnisse am Arbeitsplatz in unserem Gedächtnis. Und vermitteln "Wohlgefühle, Rausch und fröhliche Aufgewühltheit". Übrigens nicht nur bei Akademikern. Auch eine Verwaltungsangestellte, die bei der Gehaltsfindung erstmals ihren Chef unterstützen durfte, hat den Forscherinnen von ihrem "Job-Rausch" berichtet. Und ein Elektrotechniker, der die veraltete Schaltanlage einer Brauerei durch eine moderne, computergestützte Regelungstechnik ersetzte.

Es ist keine Frage des Jobs, ob man ihn mit Leidenschaft macht, davon bin ich überzeugt. Natürlich bin ich privilegiert: Journalismus ist hochspannend, halbwegs gut bezahlt, und meine Arbeit kann nicht in Asien für ein Tausendstel meines Gehalts gemacht werden. Aber ich kenne Journalistinnen, die - obwohl privilegiert - nur jammern. Und ich kenne in deutlich unattraktiveren Berufen überaus zufriedene Menschen. Zum Beispiel eine Angestellte in meiner Postagentur. Zu der gehe ich manchmal, nur um ein paar Marken zu kaufen. Weil sie eine notorische Verse-Schmiedin ist. Sagt man: "Ich hätte hier einen Brief...", antwortet sie garantiert: "Da geht nix schief." Kann sein, dass sie ihren Muffelkollegen von Schalter zwei und drei auf die Nerven geht mit ihrer guten Laune. Aber ein berufsbedingtes Burn-out-Syndrom kriegt sie bestimmt nicht.

Menschen, die gerne arbeiten, sind erotisch.

Sorgen mache ich mir dagegen um die Erzieherin im ehemaligen Kindergarten meines Sohnes. Als ich ihr mal einen "schönen Tag" wünschte, giftete sie: "Wir haben hier keinen schönen Tag. Wir müssen arbeiten." Stimmt, Erzieherinnen haben es schwer, sind Hilfslehrerin, Psychotherapeutin und Löwenbändigerin, bei 80 Dezibel und für ein mieses Gehalt. Und trotzdem dachte ich damals: Herrgott, es gibt Schlimmeres, als mein reizendes Kind zu betreuen. Soll sie verdammt noch mal für bessere Konditionen kämpfen, ich würde mich mit ihr solidarisieren und notfalls Frau von der Leyen einen Forderungskatalog mit 20 000 Unterschriften präsentieren. Aber wenn sie nicht gern Erzieherin ist - dann soll sie den Beruf wechseln. Anderswo allerdings würde sie wohl wegen ihrer Laune gefeuert. Zum Beispiel bei der Müllabfuhr-Besatzung in meinem Stadtviertel. Sie wird neuerdings von einer Frau angeführt, die als erste Amtshandlung einen Plastik-Blumenstrauß an der orangefarbenen Haltestange anbrachte. Man kann seinen Job auch gut gelaunt machen.

Übrigens finde ich Menschen, die gern arbeiten, total erotisch. Männer, die abends in der Kneipe durchrechnen, ab wann sie ihren Alterssitz auf Mallorca kaufen und beziehen können, langweilen mich. Das sollen sie bitte in der Bank oder mit ihrem Vermögensberater besprechen. Aber wenn einer mit Feuer und Flamme von seiner Arbeit im Reisebüro erzählt oder von jener seltenen Urwald-Sprache, die er kartografiert - das hat was. Ich erinnere mich an einen Kollegen in einer Zeitungsredaktion, mit dem ich eine Umfrage zum Sexleben der Deutschen konzipierte. Für die Frage "Wann haben Sie Lust?" hatte er bereits das übliche Arsenal an Wäsche-Restaurantbesuch-Musik-Kerzenlicht-Antworten notiert. Als ich vorschlug: "Nach einem gelungenen Arbeitstag", guckte er mich an, als sei ich pervers. Wir haben uns danach nie besonders gut verstanden.

Klar ist auch: Nur arbeiten ist Mist. Es muss Zeit bleiben für Lust und Laune, für Schlafen und Lesen, zweckfrei verdaddelte Sonntage ohne wirtschaftlichen Mehrwert. Das eine könnte ich ohne das andere nicht genießen. Nur arbeiten? Nein danke. Aber nur Freizeit - noch viel schlimmer.

So denken viele Frauen: Sie wollen arbeiten und leben, möglichst lange. Ein Jurist berichtete mir, seine erfolgreichen Kommilitoninnen an der Uni seien fast alle Richterinnen geworden - mit verträglichen Arbeitszeiten. Die meisten Männer dagegen werden Anwälte, arbeiten jeden Tag bis in die Puppen, wollen dann mit 45 aufhören und - "leben". Ja, wirklich, er sagte "leben", als würden Arbeiten und Leben im Duden als Gegensatz-Paar geführt. John Jetter, Vorstandschef der Investmentbank JP Morgan, ist mit 51 Jahren zurückgetreten, um, wie die "Financial Times" berichtet, "das Leben kennen zu lernen". Wird ja auch Zeit mit 51. Vielleicht lernt er jetzt auch seine Tochter kennen. Sie soll jahrelang mit seinem Foto unterm Kopfkissen geschlafen haben. Weil sie den Vater nie sah.

Ich will weder die Arbeit noch das Leben verlernen.

Ich will weder die Arbeit noch das Leben verlernen. Am liebsten hätte ich beides bis zum Schluss - und könnte die Waagschalen ab und zu justieren. Bisschen weniger arbeiten, solange die Kinder klein sind, bisschen mehr, wenn sie größer sind, im Alter wieder weniger. Nicht immer haut es hin, wie ich will. Neulich hatte ich einen rabenschwarzen Tag: Mein jüngster Sohn bekam über Nacht Mittelohrentzündung und weinte wie lange nicht mehr. Aber es war einer meiner wichtigsten Arbeitstage. Ich bin relativ neu in einer Führungsposition und sollte zum ersten Mal an einer Geschäftsleitungsrunde teilnehmen. Ich rief die Kinderfrau an, die sonst nur von 16 bis 18 Uhr bei mir arbeitet, und bat sie, den ganzen Tag bei Leo zu sein.

Das Meeting lief gut, aber auf dem Heimweg passierte der GAU: Der ICE, mit dem ich jeden Tag von Frankfurt nach Köln fahre, hatte 40 Minuten Verspätung, ich versuchte, am Flughafen einen anderen zu erreichen, mit dem Ergebnis, dass ich beide Züge verpasste. Zum ersten Mal saß ich, die taffe Chefin, heulend in der S-Bahn und war sicher: Irgendwas läuft falsch, wenn ein krankes Kind in Köln wartet und die Mutter sinnlos um Frankfurt herumfährt. Ich kam erst um sieben nach Hause und fand dort einen quietschvergnügten Jungen, dem die Kinderfrau - wie früher - den ganzen Tag Bücher vorgelesen hatte. Und vor allem eine Kinderfrau, die strahlte. "Heute habe ich mich so richtig gebraucht gefühlt", sagte sie. "Und jetzt geh ich zu Aldi und kauf mir einen Champagner von dem Extra-Geld." Da wusste ich: Die arbeitet gern. Die passt zu uns.

Text: Ursula OttFoto: Getty Images

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