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Ich will weniger!

Kleidung, Bücher, Auto, Eigenheim. Wir häufen Besitz an - und plötzlich haben wir es satt: die Sachen, die Verpflichtungen, die Verantwortung. Einige machen den radikalen Schnitt und verzichten bewusst auf Luxus.

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Was sie wohl gerade macht? Luxushotels in Kanada putzen? Pilze in Alabama pflanzen? Oder in ihrem Van "Rusty" durch Alaska fahren? Seit Annette Job auf der Durchreise von La Palma nach Toronto einen Stopp in Berlin einlegte, sind ein paar Monate vergangen. Tief gebräunt hatte die 54-Jährige damals beim Kaffee gesessen und erzählt, wie sie sich seit zwei Jahren durch die Welt "wwooft". "Wwoofen" heißt, dass man gegen Kost und Logis und manchmal auch für ein kleines Taschengeld arbeitet. Annette Job bestreitet so ihr Leben. Ihr neues Leben. "Wenn ich nur einen Koffer und einen Rucksack dabeihabe, kann ich spontan entscheiden, was ich machen will", sagt sie, "und diese Freiheit ist unbezahlbar."

Zurück auf "Los". Nach einem Sabbatjahr und der Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten hat die Sozialpädagogin gewagt, was sich viele heimlich wünschen. Wie damals, als sie von zu Hause auszog, besitzt Annette Job weder Haus noch Garten, noch Schmuck, noch Möbel. Nicht mal mehr besonders viele Ersparnisse hat sie. Alles verschenkt und ihrem ehemaligen Partner und den Kindern überlassen. Dennoch fühlt sie sich reicher als zuvor in ihrem Wohlstandsleben. "Ich konnte nie sagen: 'Alles fein, alles prima, und jetzt genießen wir das Ganze'", sagt Annette Job. "Es kam immer irgendwann das Nächste, das wir unbedingt haben mussten. Manchmal bin ich regelrecht verzweifelt daran."

Man muss gar nicht reich sein, um zu viel zu besitzen. Belästigt vom eigenen Kram - dieses Gefühl kennen viele, und zwar quer durch alle Gesellschafts- und Altersgruppen. Manchmal verschwindet es beim großen Frühjahrsaufräumen oder nach einer Verkaufsanzeige bei eBay. Manchmal aber auch nicht. Dann wird der Besitz zum Stressfaktor. Statt ihn zu genießen, sind wir damit beschäftigt, ihn zu finanzieren und zu pflegen. Oder seine Pflege zu finanzieren. Nicht er dient uns, sondern wir dienen ihm. "Jedes Zuviel belastet uns wie ein echtes Zuwenig und kostet Energie und Lebensfreude", sagt die Münchner Psychologin Hildegard Ressel, die eines der ersten und klügsten Bücher über das Downshifting, das Herunterschalten, geschrieben hat. Was haben Sie aus Ihrem Leben aussortiert? Wir veröffentlichen hier Ihre Geschichte.

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Arnd Corts aus Hagen ist dieses paradoxe Gefühl, eigentlich alles zu haben und doch unter einem Mangel zu leiden, vertraut. Wie Annette Job machte auch er einen harten Schnitt. Vor zwei Jahren stand der 43-jährige Wirtschaftsingenieur kurz davor, die Sportartikelfirma seines Chefs zu übernehmen. Er hatte im Laufe seiner Karriere für seine vierköpfige Familie ein geräumiges Haus gebaut, fuhr einen Oberklasse-Wagen mit vielen Extras, trug eine Luxusuhr und besaß eine Bibliothek mit wertvollen Büchern. Dazu kamen Sommer- und Winterurlaub, Mitgliedschaften in exklusiven Clubs, alle zwei Jahre ein neues Mountainbike - und die Bewunderung, die andere ihm entgegenbrachten.

Trotzdem haderte er. "Ich hatte den Ehrgeiz, Dinge zu erreichen, aber je mehr ich bekam, desto weniger habe ich sie genossen", sagt Arnd Corts. "Und mir war klar, wenn ich diesen Standard halten wollte, musste ich weiter Karriere machen." Zu Ende gedacht hieß das: Er würde seine Kinder auch in Zukunft nur schlafend sehen und kaum Zeit haben für Hobbys oder ein Ehrenamt in seiner Kirchengemeinde, die ihm wichtig war. Erstausgaben von Klassikern kaufen können, aber nicht mehr zum Lesen kommen? In Absprache mit seiner Frau kündigte Arnd Corts und gründete einen kleinen Internethandel. "Das war wie mit der Rute, an der eine Möhre hängt", sagt er. "Ich bin den Sachen hinterhergelaufen und habe mir selbst einen goldenen Käfig gebaut."

Warum lassen wir unser Leben von Statussymbolen diktieren?

Wie kann es so weit kommen? Warum lassen wir unser Leben von Statussymbolen diktieren, über die wir früher gelacht hätten? Obwohl wir uns nicht für so oberflächlich halten und auch nicht für leicht verführbar, geraten wir unmerklich in den Konsumsog. Hinzu kommt, was unsere Eltern uns vorgelebt haben. "Die Erfahrung der Kriegsgeneration spielt eine Rolle", sagt Psychologin Ressel. "Die Angst vor materiellem Verlust, die Entwurzelung, der Mangel." Besser zu viel als zu wenig haben, lautet die Lehre, die viele dieser Menschen gezogen und an ihre Kinder weitergegeben haben. Besitz bedeutet auch Sicherheit.

"Meine Mutter hat unter meiner Entscheidung anfangs wirklich sehr gelitten. Sie dachte, dass ich sozial abrutsche", sagt Annette Job. Erst als sie ihre Tochter beim "Wwoofen" in ihrer Unterkunft auf La Palma besuchte, das gepflegte Haus sah und die anderen Wwoofer kennen lernte, war sie wieder beruhigt. Den drei erwachsenen Kindern hingegen ist das neue Leben ihrer Mutter bis heute nicht ganz geheuer. "Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, rechnen sie damit, dass ich all meine alten Werte über Bord geworfen habe", sagt Annette Job. Davon ist die einstige Cabrio-Fahrerin jedoch weit entfernt. Werte wie Fleiß und Verantwortungsbewusstsein sind ihr nach wie vor wichtig, und krankenversichert ist sie auch. Außerdem begrüßt Annette Job jede neue Stadt mit einem Glas Champagner, bevor sie dann ins Youth Hostel geht. "Und als ich im Winter als Housekeeper in einem kanadischen Hotel gearbeitet habe, habe ich zusätzlich zu freier Kost und Logis noch eine Skiausrüstung, eine Liftkarte und einen Saunapass ausgehandelt." Was haben Sie aus Ihrem Leben aussortiert? Wir veröffentlichen hier Ihre Geschichte.

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Was leisten wir uns, nur weil wir das Geld dafür haben, und was, weil es uns zufrieden macht? Annette Job kann diese Frage, die Psychologin Ressel für entscheidend hält, heute spontan beantworten. Früher hingegen hätte sie ziemlich nachdenken müssen. Wie die meisten Menschen in Konsumgesellschaften. "Jeder Wunsch, der sich erfüllt, gebiert augenblicklich Junge", zitiert Hildegard Ressel das geflügelte Wort von Wilhelm Busch. Dabei muss der Schritt gar nicht so radikal sein wie bei Annette Job. Edda Stowasser zum Beispiel löste vor zwei Jahren "nur" ihr Reihenhaus in Hamburg auf. Die 69-Jährige, deren Vater zur See gefahren war, hatte ihr Leben lang vom Reisen geträumt. Weil sie von ihrer Rente nicht gleichzeitig reisen und ein Haus unterhalten das Haus gegen eine kleine Eigentumswohnung in einem generationsübergreifenden Wohnprojekt in Ahrensburg zu tauschen. Ein halbes Jahr lang dauerte das Aussortieren. Dann zog sie von 200 auf 60 Quadratmeter. "Es war wie eine Befreiung", sagt sie.

Umso mulmiger wird es Edda Stowasser, zu sehen, dass ihr Besitz schon wieder wächst. Der Grund: Während sie es als Gewinn empfindet, weniger als früher zu haben, erkennen ihre Bekannten und Kinder darin einen Mangel, der ausgeglichen werden muss. "Meine Schubladen quellen schon wieder über", sagt Edda Stowasser. Jüngst hat sie deshalb ein Mitbringsel-Verbot verhängt. Erlaubt ist nur noch "Flüchtiges": Blumen oder Essbares. "Ich möchte mit einem Lächeln sterben, und dafür muss ich an etwas denken, das mir in meinem Leben gelungen ist", sagt sie. "Die perfekte Gläsersammlung ist das nicht."

Edda Stowasser hat gelernt, echten von falschem Wohlstand zu unterscheiden. Dabei half ihr eine einfache Frage: Ändert sich etwas an meinem Gefühl, wenn ich diesen Gegenstand besitze - ja oder nein? Trotzdem muss auch sie manchmal kämpfen. Nach wie vor lösen Schnäppchen bei Edda Stowasser immer mal wieder einen Kaufreflex aus. "Und wenn ich in Hamburg vor den schönen Schaufenstern stehe, dann werde ich ganz unzufrieden", sagt sie. Tiefer geht allerdings ein anderer Zwiespalt: Obwohl sie weiß, dass jemand, der viel besitzt, nicht mehr wert ist als jemand, der wenig hat, wünscht sie sich manchmal ihr Reihenhaus zurück: "Das Haus hat allen gezeigt, dass ich etwas in meinem Leben geleistet habe", sagt sie. "Heute sieht man mir das nicht mehr an." Was haben Sie aus Ihrem Leben aussortiert? Wir veröffentlichen hier Ihre Geschichte.

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Andererseits kann uns das materielle Abspecken auch helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen: Wer ist an mir interessiert, weil ich so bin, wie ich bin, und für wen ist bloß wichtig, was ich habe?

und ihr Mann Hannes fallen immer wieder mal bei Bekannten durch. Das Ehepaar wohnt im schicken Hamburger Stadtteil Eppendorf. Sie ist selbständige Illustratorin, er Mitinhaber einer gut gehenden Werbeagentur. Die beiden könnten sich einiges leisten - aber sie wollen es nicht. Seit 20 Jahren leben sie in derselben gemieteten Etagenwohnung, kochen in derselben Küche, benutzen dieselbe Stereoanlage. "Wir sind einfach so gestrickt", sagt Christiane Solbach. "Wir müssen nicht auf jeder Welle mitschwimmen." Der Vorteil: Statt mühsam Kredite abzahlen zu müssen, genießen sie finanzielle Unabhängigkeit.

Je älter sie werden, desto glücklicher sind sie darüber. Das ewige Streben nach mehr, das sie in ihrer Umgebung beobachten, wird ihnen hingegen immer unheimlicher. Christiane Solbach kennt Küchen, in denen aus Rücksicht auf die Edelstahlfronten kein Fleisch mehr gebraten werden darf, und Menschen, die aus Angst um ihr sündhaft teures Edelholzparkett keinen Besuch mehr empfangen. "Das hat doch nichts mit mehr Lebensqualität zu tun", sagt sie, "das macht doch unfrei."

Aber komplett können sie sich nicht den Werten der Konsumgesellschaft entziehen. So würde Hannes Solbach konnte, entschied sie sich nach dem Auszug der Kinder, gern einen kleineren Firmenwagen fahren. Doch aus Angst, dann als erfolglos abgestempelt zu werden, lässt er es. Von anderen Dingen hingegen konnte er sich trennen. Dazu zählen auch seine Sammlungen von historischen Reklameschildern, Karussellpferden und Werken von Hamburger Malern. "Sammeln ist schön - aber was will man damit anfangen? Letztlich verstaubt alles nur." Sogar das urgemütliche, reetgedeckte Wochenendhaus in Schleswig-Holstein, das sie vor zwölf Jahren günstig erworben und über Jahre selbst renoviert haben, wollen die Solbachs verkaufen. "Wir hatten eine Phase, da waren wir in dem Haus superglücklich", sagt Christiane Solbach, "dann fi ng es uns an zu stören, dass wir jedes Wochenende rausfahren mussten, um uns um das Haus zu kümmern." Nun haben sie es inseriert. "Wir wollen nicht zum Sklaven der Dinge werden", sagt Hannes Solbach. "Mit 59 weiß ich: Ich muss nicht mehr alles besitzen."

Wieder Zeit für die Kinder

Auch Arnd Corts, der nach seiner Kündigung eine Ausbildung zum Coach gemacht hat und neben seinem Internethandel andere Menschen beim Downshifting berät, ist nicht mehr mit Autos, Uhren und Hightech zu locken. "Wenn man herausgefunden hat, was einem wirklich Sinn gibt, dann ist ein großer Besitz plötzlich nicht mehr so wichtig", sagt er.

Statt der beiden großen Autos fahren er und seine Frau heute einen sparsamen Kleinwagen. Weil sie nicht mehr so viel finanzieren müssen, sank seine Arbeitszeit von 60 auf 30 bis 40 Stunden. Arnd Corts hat Zeit für seine Kinder, fährt wieder Mountainbike und ist in seiner Kirchengemeinde aktiv. Außerdem hat er das Spazierengehen entdeckt. "Wetterfeste Kleidung, ein paar gute Schuhe. Manchmal bin ich überrascht, mit wie wenig ich glücklich sein kann", sagt er.

Auch Annette Job wünscht sich, dass "jeder Mensch mal ausprobiert, wie es sich mit weniger lebt". Sie selbst trauert ihrem Besitz nicht nach. "Wenn meine Eltern mich brauchen oder Enkelkinder kommen, will ich versuchen, in Deutschland nach dem "Wwoofer-Prinzip" zu leben." Edda Stowasser arbeitet ebenfalls weiter daran, ihren Besitz zu reduzieren. Als Nächstes will sie sich ihre Urlaubsfotos vornehmen. Nicht, um ihre Vergangenheit zu löschen, sondern weil sie "zig Bilder von irgendwelchen unbekannten Urlaubsbekannten" hat. An die wird sie nicht denken, wenn sie irgendwann im Sterben liegt und nach einer glücklichen Erinnerung sucht, da ist sie sich sicher. An ihre Fahrradtour vom letzten Sommer hingegen schon. Drei Monate lang ist Edda Stowasser durch Deutschland geradelt. Nur mit zwei Packtaschen und einem Zelt. "Das war mein größter Wunsch: allein ins Ungewisse zu radeln", sagt sie. Was haben Sie aus Ihrem Leben aussortiert? Wir veröffentlichen hier Ihre Geschichte.

Text: Beate Krol Fotos: Frank Siemers

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