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Romeo und Julia mal anders

Die dänische Autorin Anne Fortier hat einen neuen Roman über das berühmteste Liebespaar der Welt geschrieben. Ihre Fassung der tragischen Liebesgeschichte ist verblüffend gut.

Mein Herz blieb stehen, und ich atmete nicht mehr - in den Augen der Welt war ich wirklich tot. Einige sagen, ich sei drei Minuten weg gewesen, andere sprechen von vier." Die Frau, die dies sagt, ist die bekannteste Scheintote der Welt: Julia Capulet aus Verona, berühmt geworden durch William Shakespeare. Globales Allgemeingut, jedes Detail zigmal gewendet, recherchiert, interpretiert. Auf großen Bühnen und in kleinen Gelehrtenstuben. Und dann? Dann kommt eine junge dänische Autorin, schreibt einen Roman über die beiden ewig Verdammten, und Verlage in 27 Ländern reißen sich um ein Buch, bevor es überhaupt erstmals veröffentlicht wurde? Warum? Und warum sichert sich Hollywood die Filmrechte?

"Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht", sagt Anne Fortier, eine schöne Frau mit langen Haaren und wachen blauen Augen. Die 38-Jährige lebt heute in der Nähe von Montreal. "Mein Buch ist ja nicht ganz einfach. Es gibt die Verknüpfung mehrerer Fassungen des alten Stoffes, und es gibt einen modernen Erzählstrang. Vielleicht habe ich die immer noch aktuelle Sogwirkung von Romeo und Julia unterschätzt."

Ich habe die Sogwirkung von Romeo und Julia unterschätzt

Drei Jahre lang hat sie an "Julia" geschrieben: einem mal eben 600 Jahre umspannenden Roman über Romeo und Julia in Mittelalter und Gegenwart. Im Zentrum der Geschichte steht die 25-jährige Amerikanerin Julia Tolomei. Julia erfährt aus dem Brief einer Tante, bei der sie und ihre Zwillingsschwester nach dem Tod der Eltern aufgewachsen sind, dass es ein Familiengeheimnis in Siena gibt. Ein Geheimnis, das auch ihre unter mysteriösen Umständen gestorbene Mutter aufdecken wollte. Ihr einziger Anhaltspunkt ist ein Schlüssel, der zu einem Geheimfach in der Bank im Palazzo Tolomei führt. Julia reist nach Siena, und schon auf dem Flughafen lernt sie scheinbar zufällig eine reiche Italienerin aus dem Hause Salimbeni kennen, die sie in die Gesellschaft Sienas einführt. Deren Neffe, der zunächst eher ruppig als romantisch daherkommt, entpuppt sich später als ein Nachfahre des echten und ersten Romeos. Julia entdeckt anhand der im Bankfach schlummernden, längst vergessenen ersten Fassung der Romeo-und-Julia-Geschichte von 1340, dass auch ihre Familienwurzeln direkt zum größten tragischen Liebespaar der Literatur nach Siena führen. Genauer: zu den noch immer existierenden, ehemals tödlich verfeindeten Familien Tolomei und Salimbeni. So weit, so spannend.

Anne Fortiers Roman umspannt mal eben 600 Jahre

Jenes fiktive Tagebuch von 1340 über die Liebe zwischen Romeo und, wie sie damals hieß, Giulietta, das ein Maestro Ambrogio, ein Maler aus Siena, geschrieben hat, ist der zweite rote Faden des Romans. Während Julia tagsüber versucht, herauszufinden, warum und von wem sie verfolgt wird, wer in ihr Zimmer einbricht und ihre Unterlagen durchwühlt, warum es einen Geheimbund gibt, dessen Mitglieder davon überzeugt sind, dass es ihre Aufgabe ist, den Familienfluch der Tolomeis und Salimbenis zu beenden, taucht sie jede Nacht lesend hinein ins Mittelalter. Wird zu Giulietta, die sich auf einem Tanzfest im Hause ihres Onkels heimlich in dunkle Nischen auf der Empore drückt, um Romeo auf der Tanzfläche zu beobachten; die aufschreit, als ihr Onkel dem Geliebten den Adlerdolch in den Bauch stößt.

Das Tagebuch von 1340 hilft der jungen Julia Tolomei, allmählich zu verstehen, warum ihre Eltern sterben mussten, warum seit hunderten von Jahren ein Fluch auf ihrer Familie liegt und dass es einen wertvollen Schatz geben muss, den sie allein mithilfe des Tagebuchs finden kann.

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Das alles klingt schon kompliziert genug. Damit es noch etwas komplizierter wird, zitiert Anne Fortier zudem aus den tatsächlich existierenden alten Novellen aus den Jahren 1476 bis 1562, die auch Shakespeare als Vorlage dienten und die den Ursprung der Romeo-und-Julia-Geschichte ebenfalls in Siena sahen - und nicht in Verona. Kann so ein Romankonstrukt gelingen? Es kann. Vor allem, weil Anne Fortier mit all den Vorlagen, mit all den Erzählsträngen, mit der Sprache ihrer Protagonisten amüsant spielt und geschickt jongliert.

Dabei sei sie eigentlich hoffnungslos romantisch, sagt Anne Fortier: "Genau wie meine Julia." Und genau deshalb gibt es bei ihr kein Ende mit Schrecken, angedeutet bereits im Prolog: "Aber ich wollte unbedingt daran glauben, dass es dieses Mal nicht wieder auf die alte bedauerliche Tragödie hinauslaufen würde. Diesmal würden wir, Romeo und ich, für immer zusammen sein, und unsere Liebe würde nie wieder durch finstere Jahrhunderte des Bannes und des Todes unterbrochen."

Anne Fortier ist keine Literaturwissenschaftlerin. Sie war Filmproduzentin, hat in Dänemark Ideengeschichte studiert, sich einmal an einem wilden Krimi-/ Science-Fiction-Roman ausprobiert. Warum also setzt sich eine junge Frau hin und will unbedingt noch eine Fassung von "Romeo und Julia" schreiben? "Es ist die Schuld meiner Mutter", sagt sie. Denn Birgit Malling Eriksen, eine bildungshungrige Alleinerziehende, schleppte ihr Kind jeden Sommer nach Italien. Gardasee, Verona, Julias Balkon, Julias Grab, und die kleine Anne dachte: Und wo zum Teufel ist Romeo begraben? Viele Jahre später reiste ihre Mutter wieder nach Italien, diesmal nach Siena, rief die mittlerweile in den USA lebende Anne an und sagte: "Weißt du was? Ich habe herausgefunden, dass die ersten Fassungen der Romeo-und-Julia-Geschichte in Siena spielen." In diesem Moment, sagt Anne Fortier, brach ein infernalisches Glockengeläut in ihrem Kopf aus, und sie wusste: Das ist es, das ist mein Buch, das ich seit meiner Kindheit schon immer schreiben wollte.

Ich bediente mich der Augen meiner Mutter.

"Ich bediente mich der Augen meiner Mutter", sagt Anne Fortier. Sie selbst konnte sich die vielen Italienreisen nicht leisten. Ihre Mutter zog in Siena für Wochen in ein Hotel, ging in Archive, besorgte ihr einen Grundriss des Palazzo Tolomei aus dem Mittelalter, die Familienstammbäume der Salimbenis und Tolomeis, fand alte Bücher, die die Fehde der beiden Familien beschrieben, übersetzte sie und schickte die Übersetzungen per E-Mail. Sie fotografierte heimlich in einem alten Bankgebäude, sprach mit den Führern in dem alten Hospital St. Maria della Scala und erwähnte Massengräber aus der Zeit der Pest. Die Aufseher führten sie an Orte, die sonst kein Tourist sieht, zeigten ihr Knochen und Falltüren, und sie fotografierte wieder und schickte alles an Anne.

Noch heute ist Anne Fortier der Polizei von Siena dankbar, dass sie darauf verzichtete, ihre Mutter wegen ihrer heimlichen Recherchen, etwa von Banksicherheitssystemen, zu verhaften. Wie bewältigt man so eine logistische Meisterleistung, verbindet all diese Informationen, alte und neue "Romeo und Julia"-Fassungen, Bürger aus dem Mittelalter mit Menschen aus der Gegenwart, unterschiedliche Jahreszahlen, alte Stadtpläne von Siena mit neuen? "Papptafel", sagt Anne Fortier, "man braucht eine wirklich riesige Papptafel." Vor der saß sie, als sie begann, an "Julia" zu schreiben: In die Mitte zeichnete sie den Schatz, um dessen Entdeckung es letztlich und gegen Ende in einer wilden Verfolgungsjagd durch die Katakomben geht, drum herum flogen die Pfeile zwischen den Figuren und den Jahreszahlen und spannen sie zu einem Netz zusammen. Während sie also schrieb und schrieb und Pfeile malte, saß ihre Mutter in Siena in einem Hotel und wartete auf ihre Anrufe: "Mum, kannst du mal für mich die Strecke zwischen dem Palazzo und dem Campo ablaufen? Sind es nun 380 Meter oder 385 Meter?" Ihre Mutter rief wenig später zurück: "Es sind 385."

Es ist diese Detailtreue, ja fast -besessenheit, es sind die spannenden Beschreibungen touristisch bekannter Orte in einem ganz neuen Licht, die demnächst vermutlich hunderte von Touristen mit diesem Roman durch Siena laufen lassen werden. Vorsichtshalber hat Anne Fortier schon einmal einen Stadtplan Sienas mit den entscheidenden Straßen, Palazzi und Kirchen auf die Innenseite des Covers drucken lassen.

Irgendwann wollte Anne Fortier zurück zu ihrem realen Romeo

Anne Fortier glaubt daran, dass jeder Mensch eine zweite Chance im Leben bekommt. Und dies ist der dritte rote, der innere Faden des Romans: die Frage, bis zu welchem Maß man über sein Leben bestimmen, ob man aktiv entscheiden kann, wohin es sich bewegt? Anne Fortier hat mit Julia die Figur eines Mädchens geschaffen, das wie sie selbst vergeblich versucht, seine Zukunft zu sehen. "Zu zögerlich, zu unentschlossen, wartend auf etwas von außen, nur fähig, die nächsten kleinen Schritte seines Lebens zu planen, das war ich", sagt sie. "Und das ist Julia auch, anfangs."

Zweifel und Schuldgefühle, dass das, was sie tut, was in ihr ist, vielleicht nicht richtig ist, kennt auch Anne Fortier. Während sie an "Julia" schrieb, hatte sie immerzu das Gefühl, dass sie lieber putzen, backen, Geld verdienen sollte. Sie ertappte sich dabei, dass sie die absurdesten Dinge erfand, wenn ihr Ehemann Jonathan von seinen Reisen anrief und fragte: "Was hast du heute so getan?" - "Oh, einfach entspannt", sagte sie dann. "Etwas Fernsehen geschaut." Dabei hatte sie den ganzen Tag den Schlafanzug nicht ausgezogen. Sie duschte nicht, sie aß nur Kekse mit Milch. Und schrieb, schrieb, schrieb. Sie schrieb, während sie frühstückte, sie schrieb, wenn sie ins Bett ging. Sie war wie eines jener Spielzeuge, die man aufzieht und die sich dann ohne Unterlass im Kreis drehen. Sie konnte nicht aufhören, Freunde riefen sie an, wollten sie mit ins Kino, in eine Ausstellung nehmen, sie ging nicht ans Telefon. "Ich kommunizierte einfach nicht mehr", sagt sie.

Julia Tolomei findet am Ende des Romans unter der Erde Sienas, zwischen uralten Gräbern aus der Zeit der Pest, den gesuchten Schatz: eine Statue von Romeo mit Giulietta im Arm, die Augen gefertigt aus Saphiren und Smaragden. Endlich am Ziel, empfindet sie, die die ganze Zeit unter Einsatz ihres Lebens danach gesucht hat, nicht mehr das Bedürfnis, diesen Schatz zu besitzen. Ihr einziger Wunsch: in die reale Welt über der Erde zurückkehren, zu ihrem realen Romeo. Nach drei Jahren Schreiben kehrte auch Anne Fortier endlich in die reale Welt zurück, sagt sie. Sie packte die Papptafel in den Keller.

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Kann man so einfach wieder aus einer Welt auftauchen, in die man sich jahrelang versenkt hat, oder lebt man weiterhin mit den Figuren? "Irgendwie", sagt Anne Fortier und streicht sich die langen Haare aus der Stirn, "sind sie schon noch da. So schnell kann man sie nicht abschütteln. Schließlich haben ja einige von ihnen auch ziemlich reale Vorbilder." Es soll zur Premiere der italienischen Ausgabe ein großes Fest in Siena geben. Vielleicht wird dann Direktor Rosi vom Hotel "Chiusarelli" da sein, in dessen schönem Haus ihre Mutter öfter wohnte und in dem sie im Roman einen Einbruch stattfinden ließ. Und der Künstler Maestro Lippi, bei dem es sich ebenfalls um eine echte Person handelt, nicht ganz so exzentrisch, wie sie ihn im Buch dargestellt hat. Oder Dr. Antonio Tasso von der Bank Monte dei Paschi di Siena, der so freundlich war, ihre Mutter durch den Palazzo Salimbeni zu führen und ihr von der bemerkenswerten Geschichte des Gebäudes zu erzählen. Ob er allerdings von der für das Buch erdachten Folterkammer im Keller seiner ehrenwerten Bank begeistert ist, weiß Anne Fortier nicht so genau.

Im Nachwort bedankt sich Anne Fortier bei ihrem Ehemann Jonathan, "ohne den ich mich immer noch in einem schlafähnlichen Zustand befände und mir dessen nicht einmal bewusst wäre". Shakespeares Julia ist aus dem schlafähnlichen Zustand nicht mehr zurückgekommen. Annes Julia besiegt den Fluch und sagt am Ende über ihren Romeo: "Er war mein Segen, so wie ich seiner war, und das reichte aus, um uns vor Schaden zu bewahren, sollte das Schicksal - oder Shakespeare - närrisch genug sein, uns weitere Wurfgeschosse in den Weg zu schleudern." Shakespeare ist tot, und das Schicksal wird sich hüten: Anne Fortier plant im Falle eines Erfolgs eine Fortsetzung.

Bilderstrecke: Romeos und Julias in Film und Theater

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Text: Beatrix Gerstberger Fotos: Gaby Gerster

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