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Frauen, die inspirieren

Frauen, die inspirieren
© Anna Ismagilova / Shutterstock
Musen - das sind Frauen, von denen Künstler nicht lassen können. Sie inspirieren, faszinieren und erscheinen irgendwie göttlich. Aber ihre Rolle hat sich geändert.

London, Soho: Sue Tilley sitzt im Café "Maison Bertaux" und trinkt eine Diet Coke. Sie liebt diesen Teil der Stadt, hier sitzt man dicht gedrängt auf dem Bürgersteig, nah an den Passanten, die kreuz und quer an diesem Samstagvormittag durch Londons angesagtes Viertel laufen. Keiner ist wie der andere, alle haben es eilig. "Ich betrachte wahnsinnig gern Leute", sagt sie und wirft den deutschen Kunsthändlern am Nebentisch ein Lächeln zu. Sue Tilley ist 51, arbeitet als Managerin in einem Jobcenter hier gleich ums Eck, und nebenbei ist sie die bekannteste Muse Englands. Anfang der Neunziger stellte ein Freund sie dem genialen, aber egozentrischen Maler Lucian Freud vor. Fasziniert von Sues üppigem Körper, bat er sie als Modell zu sich nach Hause. In einem Zeitraum von vier Jahren stand sie ihm vor oder nach ihrer Arbeit und an den Wochenenden Modell, nackt. Insgesamt entstanden vier Bilder und ein paar Radierungen. Das Gemälde "Benefits Supervisor Sleeping" aus dem Jahr 1995 erzielte im Mai 2008 bei Christie's die Rekordsumme von 33,6 Millionen Dollar, den höchsten Betrag, den ein lebender Künstler je für ein Bild bei einer Auktion erhielt. "Alle dachten, ich lungere nur auf dem Sofa herum, dabei war das sehr anstrengend", sagt sie und lacht.

Aus den Musen mit Göttinnen-Status wurden Frauen aus Fleisch und Blut

Im antiken Griechenland glaubte man noch, dass Künstler auf die Arbeit göttlicher Musen angewiesen seien, um "das gewisse Etwas" zu erlangen. Die Musen lebten auf dem Berg Helicon und "atmeten" den Dichtern und Musikern "ihre Lieder ein". Im Gegenzug wurden sie mit Poemen und Gesängen geehrt. So war die Sache mit der Inspiration ein fairer Handel zwischen Muse und Mensch. Später verloren die Musen ihren Göttinnen-Status. Die Muse wurde zur Frau aus Fleisch und Blut. Man konnte sie anfassen, küssen, verführen und - weit schlimmer - enttäuschen, verlassen und verraten. Die berühmteste Muse, die Bildhauerin Camille Claudel, Geliebte und Schülerin von Auguste Rodin, ging an ihrer Liebe zugrunde. Die Dichterin Sylvia Plath, verheiratet mit dem englischen Schriftsteller Ted Hughes, nahm sich aus Liebeskummer das Leben.

Manchmal haben sie geplaudert. Sue Tilley und Lucian Freud. Über sein Leben. Wie er einmal Judy Garland traf. Über Popkultur. "Die mag er nämlich auch. Aber eine Muse? Ich weiß nicht. Eine Muse sollte kunstinteressiert sein und ist vielleicht auch in den Künstler verknallt. Das war ich definitiv nicht."

Aber manchmal, da passiert es eben doch. Leonard Cohen verliebte sich auf der Stelle, als er Marianne zum ersten Mal sah, an diesem sonnigen Frühlingsmorgen im Jahr 1960. In einem kleinen Lebensmittelladen auf der griechischen Insel Hydra. Ein umwerfender Augenblick. "Die schönste Frau, die ich in meinem Leben je sah", würde er später sagen. Marianne und ihr vier Monate alter Sohn waren gerade von ihrem Mann, dem Schriftsteller Axel Jensen, sitzen gelassen worden. Leonard Cohen erwies sich als geduldiger Tröster. "Meine Annäherung an Leonard erfolgte allerdings im Zeitlupentempo", sagt Marianne Ihlen. Für Marianne war er Mann, Freund, Familie. Und sie bot ihm Frieden, Schönheit, ein Wolkenkuckucksparadies, frei von moralischen oder intellektuellen Fallstricken und Verwicklungen. "Du hast mich befreit, du heißt mich willkommen, bin mehr als ein Gast", dichtete Cohen damals. Bei ihr konnte er schreiben, mit ihr konnte er durchatmen, er veröffentlichte in dieser Zeit fünf Bücher, zwei Romane und drei Gedichtbände.

Doch Cohens wachsender Erfolg als Dichter und Mariannes wachsende Eifersucht führten zum Bruch: "Ich wollte ihn am liebsten einsperren und den Schlüssel verschlucken. So eifersüchtig war ich", sagt sie heute. Leonard stürzte sich ins Schreiben. Als sich die beiden trennten, verabschiedete er sich: "Es wird wieder Zeit, etwas unglücklich zu sein." 1968 veröffentlichte er sein Debütalbum "Songs of Leonard Cohen". "So long, Marianne", sein Abschiedslied für sie, wurde einer seiner größten Hits. Marianne ging nach Norwegen zurück und verliebte sich in einen Ingenieur. Seit über 30 Jahren ist sie glücklich verheiratet. Die Erinnerung an die Zeit auf Hydra trägt die 73-Jährige auch heute noch in sich - ohne Wehmut. "Diese Liebe war ein Geschenk", sagt sie, "für mich und für Leonard."

Musen haben eine sehr ambivalente Rolle. Sie sind dem Künstler sehr nah, manchmal - als Modell - sogar nackt. Gleichzeitig sind sie Objekte der Kunst. Distanz ist die Natur ihrer Beziehung. Bevor Lucian Freud sie in sein Atelier bat, hatte Sue Tilley das noch nie zuvor getan, hatte sie sich noch nie vor einem fremden Mann ausgezogen. "Zuerst war es unangenehm, dann nicht mehr. Er war immer freundlich", erinnert sich Sue. Als Freud sie malte, wog Sue Tilley 120 Kilo und bekam von ihm pro Sitzung 20 englische Pfund. "Eine Menge Fleisch fürs Geld", grinst sie heute, um etwa 20 Kilo leichter. Schön findet sie seine Bilder nicht unbedingt. Aber für Lucian war sie vollkommen - jedenfalls in den Momenten, als er mit dem Pinsel ihre üppigen Körperformen auf die Leinwand brachte.

Musen haben schicksalshafte Begegnungen

Mafalda von Hessen ist für den Modeschöpfer Giorgio Armani die perfekte Frau. "Sie trägt meine Kleidung mit unglaublicher Eleganz und Natürlichkeit", sagt er. Mafalda von Hessen ist der Prototyp der Muse von heute. Armani erhält durch sie Inspiration, aber er bringt ihr Leben nicht durcheinander. Mafalda wuchs in Schleswig-Holstein auf Gut Panker auf. Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert, spricht sie von Apfelkuchen und der Ostsee. Sie ist Malerin, Mutter von vier Kindern und in dritter Ehe mit dem Erben einer italienischen Öl-Dynastie verheiratet. Sie lebt prunkvoll in der Villa Polissena, einem Stadtschloss in Rom, doch am Wochenende jätet sie mit ihren Kindern Unkraut im gar nicht prunkvollen Gemüsegarten. Dass ausgerechnet ein scheuer Mann wie Armani eine Frau wie Mafalda zur Muse wählte, liegt an dieser Bodenständigkeit. Er schätzt ihre unprätentiöse Art. "Ich habe Kinder und Familie, bin über 40 und kein dürres Model", sagt sie, "er mag meinen Stil, weil ich echt bin." Sie macht ihr Ding, ist unabhängig von schnellen Moden und Meinungen, das gefällt dem Modekünstler.

"Ich bin überhaupt nicht ehrgeizig", sagt Sue. "Viele sagen mir: 'Mach dies, mach jenes, nimm dir einen Agenten', und ich antworte immer: 'Nein.' Ich mag es, wenn mir Dinge passieren." Wie die Begegnung mit Lucian Freud. Das Buch über ihren Freund Leigh Bowery, eine Kultfigur der Londoner Clubszene, schrieb Sue auch nur, weil man sie darum bat. Vielleicht legt sie bald in einem Nachtclub Platten auf. Oder sie schreibt eine Kolumne. Gefragt hat man sie schon. Schicksalhafte Begegnungen werden aus dem Zufall geboren. Freundschaften auch.

Der Filmemacher Derek Jarman und die Schauspielerin Tilda Swinton trafen sich auf Augenhöhe. Ihn faszinierte ihr Renaissancegesicht mit den strahlend grünen Augen, aber noch mehr ihre disziplinierte und furchtlose Art. "Es war, als würden wir bei einer Unterhaltung weitermachen, die wir irgendwann schon einmal begonnen hatten. Wir redeten drauflos und weiter", erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Jarman. Er gab ihr auf der Stelle eine Rolle in seinem Film "Caravaggio" (1986). Bis zu seinem Tod 1994 spielte sie in sieben seiner Filme mit und wurde eine seiner engsten Vertrauten. Die Oscar-Preisträgerin ("Michael Clayton", 2008) redet über den Verstorbenen wie über einen Kumpel, einen Komplizen. Auch Jarman fand in ihr eine beste Freundin, Kollaborateurin, wagemutig und charakterstark. Für beide war die Kunst wie ein Zimmer, zu dem nur sie den Schlüssel hatten. Tilda Swinton war seine Muse, aber gleichzeitig wurde er zu ihrer. Als Jarman 1994 an Aids starb, legte sie sich eine Woche täglich für acht Stunden in einen gläsernen Sarg in der Londoner Serpentine Gallery. Neben dem Sarg hing ein Schild: "Matilda Swinton (1960-). Das Vermächtnis ihres Freundes Jarman liegt ihr am Herzen".

Hunde und Pferde kommen in den Bildern von Lucian Freud oft besser weg als Frauen, so wie in seinem Leben. Seine etwa 14 Kinder lernten ihren Vater erst kennen, als sie ihm Modell saßen. "Freud ist einer der selbstzentriertesten Männer, die ich je getroffen habe", sagt Sue Tilley. "Er denkt nie zweimal nach, er hat keine Zweifel, er kennt keine Schuld, er macht ausschließlich, was er will." Sie ist wohl eine der wenigen Vertrauten, die sich über die Egozentrik des Malers amüsieren kann. Genügend Selbstbewusstsein hat sie jedenfalls. Und Distanz. Sue Tilley kennt ihren Part: Sie war seine Muse. Nicht mehr und nicht weniger.

Buchtipps: Francine Prose: "Das Leben der Musen: Von Lou Andreas-Salomé bis Yoko Ono", Nagel & Kimche, 464 S., 24,90 Euro. Darin räumt die Autorin mit dem Vorurteil auf, weibliche Musen seien das Opfer berühmter Künstler. Im Gegenteil: Für die Frauen war es eine Chance, aus tradierten Mustern auszubrechen.

Cristina De Stefano: "Abenteuerliche Amerikanerinnen", SchirmerGraf, 256 S., 18,80 Euro. Frauen, die klug, talentiert und wagemutig sind, haben die Männer schon immer beeindruckt. Die Komponistin Kay Swift zum Beispiel war die Muse von George Gershwin, und das Model Lee Miller inspirierte den Fotografen Man Ray.

Text: Arezu Weitholz

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