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Vier auf einen Streich

Muss man ein Buch über ein Streichquartett lesen, auch wenn man nichts von Klassik versteht? Das von Sonia Simmenauer auf jeden Fall. Es ist spannend und unterhaltsam zugleich.

Als könnte sie so einen Teil von sich verschwinden lassen, schaut Sonia Simmenauer, die Hauptperson dieses Abends, verlegen auf den Tisch. Vor wenigen Minuten war sie zur Lesung gekommen, beinahe hätte man es nicht bemerkt, wie sie an den Stuhlreihen vorbei ins Licht der Bühne eilt. Hier warten ihr Verleger und eine befreundete Dramaturgin. Und ein Buch, ihr Buch, aber sie wird nicht daraus lesen. Stattdessen spricht die Freundin die ersten Sätze des ersten Kapitels: "Aus dem Alltag einer Streichquartettagentin. Paris im Februar. Kurz nach 17 Uhr ruft eine Veranstalterin an, völlig aufgelöst . . . Sie sei gerade in der Probe gewesen, das Quartett habe unaufhörlich gestritten, bis die Cellistin unter Tränen die Bühne verlassen habe. Was sie jetzt tun solle. Ich riet ihr, einen Kaffee trinken zu gehen und sich keine Sorgen zu machen. Einige Tage später bekam ich einen Brief mit einer guten Rezension des Konzerts."

Ein Streichquartett macht die vielleicht reinste Form der Musik

Einige Zuhörer lachen, Sonia Simmenauer, die Streichquartettagentin, blickt sich um, erstaunt, erleichtert. Es scheint, als beginne sie jetzt den Abend zu genießen. Und ihre neue Rolle. Seit 26 Jahren arbeitet die Konzertagentin für die besten Streichquartette dieser Welt, für das Artemis Quartett, das Guarneri String oder das Tokyo String Quartet. Sie ist die Figur im Hintergrund, eine Vertreterin, mehr nicht, sagt sie ein paar Wochen nach der Lesung. Da sitzt sie am Fenster eines erst vor Kurzem eröffneten Lokals. Es ist ihr eigenes Café, ein jüdischer Salon im ehemaligen jüdischen Hamburger Viertel. "Meine beiden Söhne waren aus dem Haus. Ich wollte wohl wieder mehr gebraucht werden. Aber man muss ja nicht gleich ein Café eröffnen oder ein Buch schreiben", sagt sie. Offensichtlich doch. Außerdem muss Sonia Simmenauer, 45, nach wie vor Konzertagentin sein. Sie sei fasziniert, sagt sie, noch immer. Von der Musik sowieso, vor allem aber vom Leben in einem Quartett, vom Miteinander dieser vier Menschen, die über Jahre, Jahrzehnte so eng miteinander verknüpft sind wie in einer Ehe vielleicht.

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Ein Streichquartett – das sind zwei Geiger, ein Cellist, ein Bratschist, vier hoch begabte Musiker, die sich gegen eine Karriere als Solo- oder Orchestermusiker entschieden haben. Was sie gewählt haben: einen schlechteren Verdienst, aber die vielleicht reinste Form der Musik, vier ähnliche Instrumente, die sich zu einem einzigen Klang vereinigen. Berühmt kann ein Quartett werden, wenn jede seiner vier Stimmen hörbar ist und gleichzeitig in den anderen aufzugehen vermag. Bekannt zu werden heißt jedoch nicht, dass irgendjemand weiß, wer da am Cello sitzt. Auf den Plakaten steht der Name des Quartetts, nicht der Musiker. "Da liegt so viel Spannung drin. Die einzelnen Musiker werden nicht sichtbar, sind aber gleichzeitig unersetzlich. Aus einem Quartett kann man kein Trio machen", sagt Sonia Simmenauer. Sie erzählt mitreißend, sie ist zu Hause in ihrer Welt, ihre Hände unterstreichen, betonen, vor allem aber sprechen ihre Augen. Sie sind hellbraun und wach, oft tränenfeucht vor Lachen. Ihnen entgeht nichts, jedenfalls keiner der hereinkommenden Cafébesucher.

Viele grüßen, man kennt sie, mag sie, diese Frau mit ihrem mädchenhaften Charme, ihrer Zahnlücke, ihrem französischen Akzent. Sonia Simmenauer wuchs in Frankreich auf, ihr Vater ist ein deutsch-jüdischer Kinderarzt, die Mutter eine Jüdin aus Rumänien. 1938 war die Familie vor den Nazis aus Hamburg nach Paris geflohen. Dass sie bis heute diese kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen hat, daran ist ihr Großvater schuld. Sie war noch ein Kind, als er sie überredete, sie nicht beim Zahnarzt entfernen zu lassen, und zu ihr sagte, die Zahnlücke sei der Weg zum Glück.

Sonia Simmenauer kennt den Klang eines Schubert'schen Streichquartetts, seit sie ein Kind war. Der Vater spielte Cello und mit drei anderen Exilanten am Abend zu Hause Quartett. Mit 18, als Abiturientin auf Sinnsuche, wohnte sie ein Jahr lang bei einem mit den Eltern befreundeten Quartett in den USA und verliebte sich dort in einen Quartettmusiker, den deutschen Cellisten Dieter Göltl. Zurück in Paris, fand sie in einer Konzertagentur den Sommerjob zur neuen Liebe. "Es ging um Musik – und es war komplett chaotisch. Ständig passierte etwas, ständig musste man reagieren. Genial. Ich wusste sofort: Das ist es", sagt sie heute. Der Großvater hatte recht. Das Glück hat seinen Weg zu ihr gefunden, auch wenn es manchmal falsch abgebogen ist. Wie 1989 etwa, als Sonia Simmenauer sich kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes von ihrem Mann trennte und gleichzeitig ihr eigenes Impresariat gründete. Eine Zeit, in der sie begriff, dass es nicht reicht, als Konzertagentin Katastrophen zu managen.

Agentin und Quartett: eine Beziehung zwischen Nähe und Distanz

Die Krisen, die sie bei den Quartetten erlebte, sind existenzieller als die der Solisten. Liebeskummer, Scheidungen, Krankheiten, Zweifel, Frust über die zumeist engen Probenräume, Ärger über das übel riechende Parfüm, das der Kollege seit Jahren benutzt – bei einem Quartett wirkt sich alles immer gleich vierfach aus. Alles betrifft jeden und darf doch nicht das gemeinsame Schweben zerstören. Während Solisten im Konzert frontal zum Publikum stehen, sitzt ein Quartett im Halbkreis, wie in einer Unterhaltung mit sich selbst.

Die Agentin lernte nicht nur, dass Musiker auf Reisen ihre Hotelzimmer am liebsten so weit wie möglich voneinander entfernt buchen und dass echte Trennungen nie laut angekündigt werden, sie erlebte auch, wo ihre eigenen Grenzen liegen. Anfangs wäre sie fast daran zerbrochen, sagt sie, dass sie nicht loslassen konnte. Sie war ehrgeizig, wollte ihre Künstler weit bringen. Und lernte erst allmählich, deren wunde Punkte zu berühren, ohne in sie zu dringen, ohne sich selbst emotional zu verstricken und mit dem Risiko zu leben, verlassen zu werden. Diese Balance, diese oft schwierige Grenze zwischen Freundschaft und Beruf, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Offenheit und Diskretion, musste Sonia Simmenauer auch beim Schreiben ihres Buches finden. Wie viel darf eine Agentin preisgeben, ohne das Vertrauen ihrer Künstler zu verlieren? Wie erzählt man Geschichten, die nicht zu persönlich sind, sich aber trotzdem lebendig und spannend lesen? Es sollte ja kein Sachbuch über Musik werden, sondern eine vom Leben erzählte Geschichte.

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Sonia Simmenauer hat auch hier ihren Weg gefunden. Sie rekonstruiert Situationen und Gespräche aus ihrer Erinnerung, zitiert einzelne Musiker nur mit deren Einverständnis und vermeidet Namen, wenn es zu heikel wird. Sie hebt den Vorhang für den Blick hinter die Kulissen, zerrt aber niemanden ins Licht. Sie schreibt für und nicht gegen ihre Musiker. So sind schöne und zugleich sehr diskrete Geschichten entstanden. Anekdoten wie diese: "An einem Montagmorgen läutet das Telefon Sturm . . . Ich verstehe zunächst nicht, was gesagt wird, ich habe noch nie mit Japan telefoniert, die Leitung ist schlecht, der Akzent, mit dem Englisch gesprochen wird, sehr gewöhnungsbedürftig . . . Quartett, Visa, Gefängnis . . . Plötzlich verstehe ich nur zu gut. Ein Quartett-Musiker war am Sonntag nach Japan geflogen, hatte kein Visum, saß im Flughafengefängnis . . . Ein riesiges Missverständnis: die notwenigen Visapapiere hatten wir ihnen geschickt, per Einschreiben, um sicherzustellen, dass sie nicht verloren gehen. Der Angeschriebene bekam zwar die Meldung per Post, fürchtete aber eine ihm unangenehme Sendung und holte den Brief einfach nicht ab. Der Konsul wurde bemüht . . . das Quartett kam frei, zwei Stunden vor seinem ersten Konzert."

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Für Sonia Simmenauer ist der Alltag ihrer Streichquartette jedoch mehr als nur eine Ansammlung lustiger Geschichten. "Quartette sind ein Mikrokosmos, sie sind die Essenz des Lebens, ein Abbild unserer Gesellschaft", sagt sie. An ihnen und ihren Kompositionen ließe sich sogar die Entwicklung der Demokratie nachzeichnen: Waren die Stücke von Joseph Haydn noch auf die Erste Geige zugeschnitten, schrieb Beethoven seine Werke schon gleichberechtigter. Wirklich gleichwertig wurden die vier Stimmen erst im 20. Jahrhundert zu Zeiten von Béla Bartók. Und heute? Sie lächelt hintergründig und meint, dass zeitgenössische Komponisten wieder Stücke schrieben, die mehr einem Instrument zugeordnet sind: "Wir leben in schwierigen Zeiten." Aber nicht nur von den Kompositionen ist das Zusammenspiel der Quartette abhängig, auch vom Geschlecht. "Ich mag es besonders, wenn vier Männer miteinander spielen. Das hat etwas ganz Starkes, Fröhliches." Und vier Frauen? Sonia Simmenauer winkt ab. "Wahrscheinlich werde ich geköpft, aber ganz ehrlich: Frauen diskutieren meist jeden Konflikt aus, und das merkt man ihrer Musik an. Die wird so vernünftig. Männer dagegen reden wenig miteinander und tragen ihre Konflikte ins Spiel rein – und das hört man."

Ein erfolgreiches Quartett besteht meist aus drei Männern und einer Frau

Eine Frau und drei Männer – das ist heute der Trend bei den jungen, erfolgreichen Musikern wie dem Artemis Quartett. Eine Mischung, die offenbar dem Temperament nicht schadet und dem Umgang auf der Bühne nutzt. Jeder, der sich für ein Leben im Quartett entscheidet, fragt sich wohl irgendwann: Muss es sein? So heißt auch das Buch von Sonia Simmenauer, für das letztlich der Anruf eines Radioredakteurs den Anstoß gegeben hatte. Sie sollte ein Essay über Streichquartette verfassen, also schrieb sie über das, was sie selbst faszinierte, doch das Radio sendete das Geschriebene nie. Sie wollten Zitate von Nietzsche und Kant, keine lebensnahen Geschichten. Ihr Mann jedoch meinte, sie halte das Gerüst eines Buches in der Hand.

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Vier Jahre später gab es in den Zeitungen erste begeisterte Kritiken. "Das Schreiben war schön und schrecklich zugleich", sagt die Autorin. Es war Rückzug, Freiraum, Sabbatical. Zur Abwechslung organisierte sie mal nicht die Kunst anderer. Sonia Simmenauer will in den Salon hinter dem Café wechseln. Es ist ihr Lieblingsraum, ein schlichtes helles Zimmer mit großen Fenstern zum Hinterhofgarten – eine ehemalige Druckereiwerkstatt. Hier veranstaltet sie regelmäßig Lesungen und Konzerte, mit denen sie die jüdische Kultur pflegt und damit auch ihre eigenen Wurzeln. Hier sollen sich Menschen an dem langen Holztisch zu einem Gesprächskreis treffen, in diesem Raum, wo der Boden auf einer Seite etwas schief ist. Sie lächelt versonnen und sagt: "So fallen die Gedanken in die Ecke und ich kann sie aufsammeln. Das ist gut.

Buchtipp: Sonia Simmenauer: „Muss es sein? Leben im Quartett“, Berenberg 2008, 131 S., 19 Euro

Text: Antje Liebsch<br/><br/>Fotos: Achim Multhaupt

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