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Juliette Binoche: "Unsere Gesellschaft nutzt Sex, um alles zu verkaufen"

Filme mit eindeutiger Botschaft findet Juliette Binoche "zum Kotzen". In "Das bessere Leben" (ab 29. März im Kino) stellt sie deshalb lieber Fragen - als Journalistin, die eine Geschichte über zwei junge Teilzeit-Prostituierte macht. Ein Gespräch über (käuflichen) Sex, wahre Liebe und Beziehungsnöte.

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BRIGITTE-woman.de: In "Das bessere Leben" interviewen Sie als Journalistin zwei Studentinnen, die sich ihren Lebensunterhalt als Escort-Damen verdienen. Hat der Film Sie für das Thema Prostitution sensibilisiert?

Juliette Binoche: Ich war geschockt, als ich die Doku gesehen habe, die Regisseurin Malgoska Szumowska vorher zu dem Thema gemacht hat. Wie kann sich jemand bloß prostituieren? Ich habe keine Antwort drauf. Ich finde es gefährlich, selbstzerstörerisch und traurig. Wenn die Mädchen wirklich die Wahl hätten, würden sie das nicht machen, glaube ich. Aber: Wer bin ich, dass ich darüber richten kann?

BRIGITTE-woman.de: Die beiden Frauen im Film wirken sehr selbstbestimmt und sehen sich nicht als Opfer.

Juliette Binoche: Natürlich sind sie Opfer. Sie geben vor, dass alles okay ist und sagen, das ist jetzt nur für eine bestimmte Zeit und dann mache ich was anderes, aber in dem Film sieht man ja zum Beispiel auch, dass Anais nicht in der Lage ist, mit ihrem Freund zu schlafen. In unserer Gesellschaft wird Sex genutzt, um alles zu verkaufen. Als junge Studentin denkst Du dann: Warum nicht ich? Ich möchte auch Teil einer Gesellschaft sein, die Luxusgüter hat, ich möchte dazugehören und nicht als armes Mädchen außen vor sein. Eine traurige Situation.

BRIGITTE-woman.de: Die Journalistin in dem Film wird beeinflusst von der Story, die sie schreibt. Kennen Sie das von Ihrer Arbeit als Schauspielerin auch?

Juliette Binoche: Fast alle meine Figuren lösen etwas in mir aus, weil ich durch sie mehr über mich erfahre. Manchmal nimmst du eine Rolle an und weißt anfangs gar nicht so richtig, warum. Du hast einfach das Gefühl, dass du sie spielen musst. Und am Ende weißt du plötzlich, warum. Zuletzt habe ich unter Bruno Dumont die Figur der Camille Claudel gespielt, die ja nachher in einer psychiatrischen Anstalt war. An dieser Figur sieht man: Du brauchst Zuneigung, du brauchst Beachtung, die menschlichen Basics. Ohne Halt kann ein Mensch nicht vernünftig aufwachsen.

BRIGITTE-woman.de: Warum haben Sie "Das bessere Leben" gedreht?

Juliette Binoche: Weil ich das Thema wichtig fand. Ich mag keine Filme mit Message. Dieses "schau mal, das ist doch alles so schwer usw." finde ich zum Kotzen. Aber dieser Film gibt keine Antworten, das mag ich. Er sorgt für ein bisschen Irritation und bringt einen zum Nachdenken - über die Gesellschaft, über Liebe, über Beziehungen. Der jüngere Sohn im Film sitzt nur vor seinen Computer-Spielen, der ältere kifft, der Ehemann lebt für die Arbeit und guckt Pornos. Keiner stellt sich seinen Emotionen. Wo ist da die Beziehung? All diese Süchte sind Mittel, um sich selbst und die anderen möglichst nicht zu spüren.

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BRIGITTE-woman.de: Halten Sie die Familie aus dem Film für eine typische, moderne Familie?

Juliette Binoche: Alles ist schick in ihrem Apartment, alles ist in Ordnung, die Bücher stehen am richtigen Platz, der Tisch auch, alles ist perfekt, trotzdem liegt da eine Störung über allem.

BRIGITTE-woman.de: Regisseurin Malgoska Szumowska sieht einen Unterschied, wie die ältere und die jüngere Generation mit Liebe und Sex umgeht. Die jüngere könne das eine vom anderen trennen. Teilen Sie diese Ansicht?

Juliette Binoche: Nein, die Möglichkeit, Körper und Seele oder Körper und Herz zu trennen, hat es schon immer gegeben. Eine Herausforderung im Leben ist, die eigenen Gefühle zu ergründen und zu ihnen zu stehen. Einfacher ist es natürlich rauszugehen, einen Drink zu nehmen und Sex zu haben, aber das bringt dich deinen Gefühlen nicht näher.

BRIGITTE-woman.de: Aus reinem Sex lässt sich also kein Erkenntnisgewinn ziehen?

Juliette Binoche: Nein, ich denke, wenn der Körper ein reines Objekt ist, bekommt man nicht das, wofür der Körper da ist. In einer Liebesbeziehung kannst du natürlich um deine Interessen spielen: Machst du das, tu ich das - ein Ping-Pong-Spiel. Aber ich sehe Liebe auf einer höheren Ebene, es geht nicht um die eigenen Interessen, es geht darum zu geben, und dann bekommst du automatisch etwas zurück. Die sexuelle Energie von Männern und Frauen ist unterschiedlich, körperlich unterscheiden wir uns sowieso. Wir Frauen sind eher die Empfangenden, die Männer eher die Handelnden. Ich glaube, wenn die Frau aktiv wird, verändert das die gesamte Energie. Uns Frauen wird gesagt, wir sollen uns mehr wie Männer verhalten, aber beim Sex funktioniert das meiner Meinung nach nicht.

BRIGITTE-woman.de: In dem Film haben Sie eine Masturbationsszene. Erfordern Szenen wie diese besonderen Mut?

Juliette Binoche: Wenn man anfängt, Unterschiede zu machen zwischen Nacktszenen und anderen Szenen, kommt man in Schwierigkeiten. Als Schauspieler bist du dem Projekt von Anfang bis zum Ende verpflichtet. Ich muss dem Regisseur vertrauen, sonst kann ich nicht arbeiten. Wenn ich anfangen würde zu überlegen, wie mache ich das jetzt, wo ist die Kamera, wie wird das aussehen, wie ist das Licht, würde mich das in eine traumatische Situation stürzen.

BRIGITTE-woman.de: Sind Sie als Schauspielerin über die Jahre mutiger geworden?

Juliette Binoche: Ich finde, ich war schon immer ziemlich mutig. Wenn ich so an die Sexszenen in "Rendez-vous" zurückdenke, da war ich gerade mal 20 Jahre alt. Ich musste nicht bis jetzt warten.

Der Film

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Die Journalistin Anne (Juliette Binoche) interviewt zwei junge Teilzeit-Prostituierte zu ihrem Leben und ihren Sehnsüchten. Und kommt ins Grübeln über das Geben und Nehmen ihrer eigenen bürgerlichen Existenz. "Das bessere Leben" ist ein gut gespielter und betont vorurteilsfreier Film (viel expliziter Sex!), der über seinen Thesen nur manchmal das Erzählen vernachlässigt.

Juliette Binoche

Die Französin Juliette Binoche (48) ist sowohl im Kunst- als auch im Mainstreamkino zuhause. So spielte sie etwa in den Publikumserfolgen "Der englische Patient" (Oscar als beste Nebendarstellerin) von Anthony Minghella oder Lasse Hallströms "Chocolat" (Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin). 2010 gewann sie in Cannes den Darstellerpreis für "Die Liebesfälscher" von Abbas Kiarostami. Juliette Binoche hat eine Tochter aus der Beziehung zu Schauspielkollege Benoît Magimel, mit dem sie bis 2003 liiert war, sowie einen Sohn aus einer früheren Beziehung.

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