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Das Interview mit Anna Netrebko

Anna Netrebko ist die berühmteste und am meisten gehypte Sopranistin der Welt. Ein Interview gibt die Russin nur selten. Doch wir sprächen mit ihr über Disziplin, Faulheit und Familie.

Sie kann sehr kalkuliert die Stimme senken und flüstern, als würde sie einem gleich ein Geheimnis anvertrauen. Dann lacht sie laut, "hahaha", und es klingt wie ein perfektes Opernlachen. Im Laufe des Interviews im "Hotel Sacher" vergisst Anna Netrebko jedoch irgendwann, ihren Charme zu optimieren. Dann lacht sie ganz entspannt los, gestikuliert, seufzt, ballt die Faust, und man hat das Gefühl, sie ist wirklich da und mit ihren Gedanken nicht woanders.

Allmählich versackt sie auf dem Sofa und denkt nur noch ab und zu daran, sich fürs Foto wieder aufzurichten. Ihr Partner, der uruguayische Bassbariton Erwin Schrott, kommt nach einer Probe kurz vorbei, mit dickem Wollschal und grauem Pullover, grüßt fröhlich, dann ist er wieder verschwunden. Er solle nicht so viel rauchen, ruft Anna Netrebko ihm hinterher - Errrwin sagt sie, mit stark gerolltem R -, das hat er aber schon nicht mehr gehört. Die Fotos, die während des Interviews geschossen werden, will sie unbedingt gleich sehen. Jetzt ist sie plötzlich sehr streng: Dieses nicht, jenes nicht, da ist zu viel Doppelkinn, dort schaut sie zu ernst. Sie entscheidet, wie die Welt Anna Netrebko sehen darf.

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Anna Netrebko wurde 1971 im südrussischen Krasnodar geboren, ihr Vater war Geologe, die Mutter Ingenieurin. Ihren Gesangsunterricht verdiente sich die Sopranistin mit einem Job als Reinemachefrau im St. Petersburger Opernhaus, dort gab sie 1994 ihr Operndebüt in Mozarts "Figaro". Der internationale Durchbruch gelang ihr 2002 in Salzburg als Donna Anna in Mozarts "Don Giovanni". Seitdem wird die Sängerin auf allen Bühnen der Welt gefeiert, zuletzt 2010 in Charles Gounods "Romeo und Julia" bei den Salzburger Festspielen. Anna Netrebko lebt in Wien, New York und St. Petersburg, seit 2006 hat sie auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit ihrem Partner, dem Bassbariton Erwin Schrott aus Uruguay, hat sie einen zweijährigen Sohn.

BRIGITTE WOMAN: Die Zuschauer lieben es, wenn Sie bei einer Aufführung etwas Ausgeflipptes tun, zum Beispiel Ihre Schuhe ins Orchester werfen und barfuß tanzen...

Anna Netrebko: ...ach, die Schuhe. Das habe ich einmal gemacht, 2007, bei einem Gala- konzert, das stimmt. Aber die Leute, die Musik wirklich mögen, sollten nicht solche Erwartungen an mich haben. Ich bin Sängerin und keine Action-Heldin.

BRIGITTE WOMAN: Ihr neues Album ist Barockmusik von Pergolesi, unter anderem sein "Stabat Mater". Das ist nicht unbedingt die Musik, die man mit Ihnen verbindet. Sie haben Pergolesis Musik sogar im letzten Jahr im Festspielhaus in Baden-Baden gesungen. Hatten Sie keine Angst, dass da fürs Publikum zu wenig Glamour rüberkam?

Anna Netrebko: Nein. Ich war sehr froh darüber, das "Stabat Mater" zu singen, es war immer eines meiner Lieblingsstücke. Aber ich musste erst meine Stimme für diese Art von Musik finden. Am Ende war die Aufführung ein großer Erfolg.

BRIGITTE WOMAN: Kennen Sie eigentlich noch so etwas wie Lampenfieber?

Anna Netrebko: Normalerweise habe ich keine Angst, auf der Bühne zu stehen. Aber es kommt vor, dass ich mich am Tag einer Aufführung nicht gut fühle. Ich wache morgens auf, der Atem ist unruhig. Alles, was mir beim Singen vor ein paar Tagen noch leicht fiel, ist plötzlich harte Arbeit.

BRIGITTE WOMAN: Passiert das auch an Tagen, an denen abends keine Aufführung ist?

Anna Netrebko: Eher nicht. Es ist mehr die Unruhe vor einem großen Event: eine neue Rolle, eine neue Inszenierung oder ein großes Konzert.

BRIGITTE WOMAN: Was hilft gegen die Nervosität?

Anna Netrebko: Sie meinen, ob ich Wodka trinke oder Schokolade esse? Ich nehme gar nichts und hoffe, dass die Unruhe von selbst vorbeigeht.

BRIGITTE WOMAN: Sie gelten als sehr diszipliniert, singen sogar, wenn Sie krank sind. Nur 2007 mussten Sie wegen Stimmbandproblemen bei den Salzburger Festspielen passen.

Anna Netrebko: Ja, da ging es wirklich nicht. Normalerweise denke ich immer, es wird von mir erwartet, dass ich singe. Letztes Jahr war ich dreimal so krank, dass ich kaum sprechen konnte. Aber ich wollte nicht absagen, es war die Neuinszenierung von Charles Gounods Liebesdrama "Romeo und Julia" in Salzburg. Ich sah schon die Zeitungsartikel vor mir: "Bald ist ihre Karriere zu Ende..." Bloß nicht! Ich begann also zu singen und wusste nicht, ob ich es bis zum Ende schaffen würde. Erstaunlicherweise hat das Publikum gar nicht mitgekriegt, dass ich so angeschlagen war. Trotzdem: Ich hätte absagen sollen! In Zukunft will ich vernünftiger sein.

BRIGITTE WOMAN: Haben Sie eine Ahnung, woher Ihr großes Pflichtbewusstsein kommt?

Anna Netrebko: Es stimmt, ich habe wirklich etwas Soldatisches in mir. Wissen Sie, ich bin im Russland der siebziger Jahre aufgewachsen. Das war immer noch die Atmosphäre des Kalten Krieges, wir sind in dem Bewusstsein groß geworden, dass wir bereit sein müssen für einen möglichen Krieg gegen den Westen, so funktionierte die Propaganda. Ich habe eine Menge von diesen Büchern gelesen, in denen die Helden furchtlos und stark sind und für das Vaterland sterben wollen. Damals habe ich diese Bücher verschlungen, ich liebte die Helden und wollte selbst stark sein. Im Sommer war ich immer in einem Pionierlager. Ich marschierte mit vielen anderen Kindern in Gruppen los, wir sangen Lieder und hatten auch Spaß dabei. Natürlich haben wir das alles nicht immer todernst genommen. Aber wir waren nun mal sowjetische Kinder und sind mit Disziplin aufgewachsen.

BRIGITTE WOMAN: Träumen Sie manchmal davon, richtig faul zu sein?

Anna Netrebko: Träumen? Ich kann faul sein, sehr sogar!

BRIGITTE WOMAN: Das glaube ich Ihnen nicht.

Anna Netrebko: Sagen wir so: Wenn es drauf ankommt, bin ich sehr diszipliniert. Und wenn es mal eine Chance gibt, faul zu sein, nutze ich sie.

BRIGITTE WOMAN: Ein Beispiel?

Anna Netrebko: Ich bin mal mit meiner Kollegin Elina Garanca, der lettischen Mezzosopranistin, zusammen geflogen, es war ein Fünf-Stunden-Flug. Sie ist unglaublich talentiert, aber auch Workaholic. Die ganze Zeit über studierte Elina eine Partitur. Ich schaue vielleicht zehn Minuten hinein, dann reicht es mir, und ich entspanne mich.

BRIGITTE WOMAN: Haben Sie auch mal erlebt, dass Ihnen durch den Stress die Freude am Singen vergangen ist?

Anna Netrebko: Vor ein paar Jahren, 2004, war ich körperlich sehr erschöpft. Es war das Gefühl von Zuviel, so wie wenn man Unmengen Süßigkeiten isst und sich danach schlecht fühlt. Ich habe für einige Zeit ausgesetzt, dann ging es wieder. Die vielen Reisen, die ich machen muss, sind kräftezehrend. Ich habe immer wieder Probleme, weil ich unter Eisenmangel leide, und muss das regelmäßig kontrollieren lassen.

BRIGITTE WOMAN: Ihr Kollege Rolando Villazón, mit dem Sie viel zusammen gesungen haben, hatte 2007 ein Burn-out, 2009 eine Stimmbandoperation und musste immer wieder Monate aussetzen. Solche Geschichten sind nicht gerade aufbauend.

Anna Netrebko: Das stimmt. Aber glücklicherweise ist er zurückgekehrt. Er hat eine unglaubliche Energie und strahlt aus, dass ihm das Singen Spaß macht. Das ist sehr ansteckend und hat mir damals geholfen, die Freude wiederzufinden.

BRIGITTE WOMAN: Sie und Villazón wurden als das Traumpaar der Opernbühne hymnisch gefeiert. Sie haben einmal gesagt, dass Sie den Hype um Ihre Person hassen, die vielen Berichte in den Medien. Genießen Sie den Hype nicht auch?

Anna Netrebko: Es ist mir oft zu viel, und deshalb lese ich die Artikel in den Zeitungen auch gar nicht. Hier in Wien nervt es mich, dass vor einer Aufführung überall mein Bild plakatiert wird, als würden meine Kollegen, die auch mitsingen, gar nicht existieren. Es hilft mir nicht, es hilft keinem. Aber es ist halt Show-Business. Die Ticketpreise der Konzerte, bei denen ich singe, sind oft absurd hoch. Ich kann verstehen, dass die Zuschauer darüber klagen.

BRIGITTE WOMAN: Setzen Sie die hohen Kartenpreise unter Druck?

Anna Netrebko: Ja. Ich kann nur mein Bestes geben, Lieder in einer großen musikalischen Bandbreite singen, in verschiedenen Sprachen, damit möglichst viele Zuhörer angesprochen werden.

BRIGITTE WOMAN: Auch wenn Sie den Hype um Ihre Person nicht mögen, haben Sie selbst daran mitgearbeitet. Sie haben immer wieder Werbung gemacht, zum Beispiel für Escada, Dior, Chopard, Schwarzkopf und BMW

Anna Netrebko: Das ist doch etwas anderes. Es hat mir viel Spaß gemacht, und ich mag die Produkte.

BRIGITTE WOMAN: Und bezahlt werden Sie dafür auch nicht schlecht.

Anna Netrebko: Ja, aber es hält sich im Rahmen.

BRIGITTE WOMAN: Trotzdem befördert Werbung den Hype - ob Sie wollen oder nicht.

Anna Netrebko: Ich bin nun mal eine öffentliche Figur. Ich engagiere mich ja auch für wohltätige Zwecke. Ich kann meinen Namen dafür einsetzen, wirklich relevante Dinge zu machen, zum Beispiel als Schirmherrin für Kinderhilfe-Projekte. Das finde ich sehr schön.

BRIGITTE WOMAN: Seit gut zwei Jahren sind Sie selbst Mutter. Als Ihr Sohn Tiago auf die Welt kam, waren Sie 37. War es der richtige Moment für Sie?

Anna Netrebko: Ich bin froh, dass ich nicht früher Mutter geworden bin. Ich glaube, ich war erst mit 37 reif dafür. Außerdem braucht man natürlich den richtigen Mann dafür, und bei Erwin wusste ich, dass er es ist.

BRIGITTE WOMAN: Wie war es in Ihrer Babypause, als Sie keine Proben, keine Aufführungen hatten? Irgendwelche Entzugserscheinungen?

Anna Netrebko: Nein! Ich war so glücklich, nicht zu singen. Ich wollte nicht mal wissen, ob meine Stimme noch da ist. Zu Hause fühlte ich mich wohl und wollte überhaupt nicht zurück auf die Bühne.

BRIGITTE WOMAN: In den Zeitungen, die Sie nicht lesen, steht, Ihre Stimme sei voller geworden, seit Sie Mutter sind. Singen Sie denn zu Hause Ihrem Sohn viel vor?

Anna Netrebko: Ich singe auf den Proben, zu Hause überhaupt nicht. Silenzio!

BRIGITTE WOMAN: Aber bestimmt singen Sie Schlaflieder.

Anna Netrebko: Nein, kein einziges.

BRIGITTE WOMAN: Wenn Sie zu Hause singen würden, hieße das, Arbeit mit nach Hause nehmen?

Anna Netrebko: So ungefähr. Wenn ich bei einer Probe sieben, acht Stunden lang Musik höre, bin ich heilfroh, wenn zu Hause nicht gesungen wird. Ich singe wirklich nur, wenn ich es nicht vermeiden kann, ein Stück einüben muss. Zwanzig Minuten sind absolutes Maximum. Das ist schlecht, ich weiß. (lacht) Erwin dagegen singt gern zu Hause, aber entspannende Musik, Bossa Nova zum Beispiel.

BRIGITTE WOMAN: Ihr Sohn ist jetzt zweieinhalb Jahre alt. Weiß er überhaupt, dass seine Mutter Opernsängerin ist, wenn Sie zu Hause keine einzige Arie trällern?

Anna Netrebko: Klar. Im letzten Jahr war er auf einer Probe von Jules Massenets "Manon" in London dabei, wir probten im Royal Opera House, mit Orchester, Chor, Sängern. Ich sang eine große Arie der Manon, lalalalala, nahm zwischendurch Tiago auf den Arm. Erst war er sehr interessiert, aber dann steckte er mir plötzlich seinen Finger in den Mund. Aus Versehen habe ich draufgebissen, und Tiago schrie wie am Spieß, uuäääääää. Der Dirigent, Antonio Pappano, hatte gar nicht mitbekommen, dass ich Tiago im Arm hielt, und war dann völlig konsterniert. Ich habe die Probe mit meinem Sohn verlassen...

BRIGITTE WOMAN: ...ohne den Bühnentod zu sterben, wie es ja das Ende von "Manon" vorsieht. Sind Sie denn völlig cool, wenn Sie in den Tod gehen müssen?

Anna Netrebko: Ehrlich gesagt: nein. Eine Kollegin, die amerikanische Sopranistin Patricia Racette, sagt, sie fände es wunderbar, auf der Bühne zu sterben. Ich bin da eher beklommen. Bei einer Komödie mit Happy End fühle ich mich wohler.

BRIGITTE WOMAN: Wenn Sie für Ihre Auftritte durch die ganze Welt touren, nehmen Sie Tiago immer mit. Fühlen Sie sich manchmal als allein-erziehende Mutter?

Anna Netrebko: Doch, schon, aber glücklicherweise bekomme ich immer Hilfe. Ich habe eine Kinderfrau in New York, eine in Wien, und meine Schwester und eine Freundin helfen auch. Wenn ich zum Beispiel zu Auftritten nach Japan reisen muss, kommt meine Kinderfrau oder meine Schwester mit.

BRIGITTE WOMAN: Was spricht dagegen, dass Ihr Sohn in solchen Fällen bei seinem Vater bleibt?

Anna Netrebko: Erwin ist ja auch ständig unterwegs, hat Proben und Aufführungen in aller Welt. Wir führen schon ein ziemlich verrücktes Leben, und ich leide sehr unter den vielen Trennungen. Manchmal singen wir in einer Produktion zusammen, aber das ist selten. Andererseits: Wir wollen nicht zu oft als das singende Paar auftreten.

BRIGITTE WOMAN: Wünschen Sie sich, dass der Sohn des singenden Paares später auch einmal Opernsänger sein wird?

Anna Netrebko: Ganz ehrlich: Ich hoffe es nicht. Der Job bedeutet einfach unheimlich viel Stress.

BRIGITTE WOMAN: Und Planung. Vermutlich wissen Sie jetzt schon, wo Sie in fünf Jahren an genau dem Datum von heute sein werden. Was ist das für ein Gefühl, wenn das ganze Leben durchgetaktet ist?

Anna Netrebko: Na ja, immerhin werde ich nicht so leicht überrascht. Wenn ich weiß, dass ich in fünf Jahren eine sehr anspruchsvolle Rolle in einer neuen Inszenierung singen muss, kann ich mich in Ruhe darauf einstellen. Aber Sie haben natürlich recht: Es ist seltsam, so verplant zu sein. Weiß ich denn, was mit mir in fünf Jahren sein wird? Werde ich überhaupt in der Lage sein, auf der Bühne zu stehen...

BRIGITTE WOMAN: Vielleicht sind Sie dann wieder schwanger.

Anna Netrebko: Möglich. (lacht) Wir haben keine konkreten Pläne.

BRIGITTE WOMAN: Gibt es etwas, wovor Sie sich fürchten?

Anna Netrebko: Bevor ich meine kleine Familie hatte, war ich mehr oder weniger angstfrei. Jetzt ist da diese schöne Welt, die wir uns zu dritt aufgebaut haben und die mir so wichtig ist. Seitdem habe ich Angst davor, diesen Schatz, dieses Glück wieder zu verlieren.

Interview: Franziska Wolffheim Ein Artikel aus der BRIGITTE WOMAN, Heft 06/2011

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