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Wally Lamb und der Wahnsinn der Welt

Der neue Roman des US-Autors Wally Lamb begann mit vielen Inseln - Geschichten, die unverbunden nebeneinanderstanden. Als er sie zusammenfügte, wurde vieles klarer.

Wally Lamb stand vor dem Spiegel und band sich seine Krawatte. Plötzlich hörte er seine Frau Chris rufen: O nein! O Gott! Wenige Sekunden später sah er auf CNN die Bilder vom Chaos, das nach dem Massaker an der Columbine Highschool im US- Bundesstaat Colorado ausgebrochen war. Zwei Schüler hatten zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschossen. Lamb war geschockt. Er selbst hatte mehr als die Hälfte seines Lebens an Highschools verbracht, vier Jahre als Schüler und 25 als Lehrer, und konnte sich sehr gut in die Situation der Opfer versetzen. Aber auch in die der Angehörigen der Täter. Eine Verwandte Lambs war befreundet mit der Schwester eines Schülers, der zwei Jahre zuvor in einer Highschool in Kentucky Amok gelaufen war. "Nach dem Schießen rannte das Mädchen den Flur schluchzend auf und ab und sagte immer wieder: 'Ich begreife das nicht, wie konnte mein Bruder so etwas tun?'", erzählt Lamb. "Ich musste daran denken, wie sich ihr Leben auf schreckliche Weise geändert hat. Aus Gründen, mit denen sie nichts zu tun hatte, für die sie nichts konnte."

Der dritte Roman von Wally Lamb

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"Die Stunde, in der ich zu glauben begann" ist Lambs dritter Roman. Columbine steht am Anfang seiner Geschichte und wirft das Leben von Caelum Quirk und seiner Frau Maureen völlig aus der Bahn. Sie arbeiten an der Highschool, er als Lehrer, sie als Krankenschwester. Neun Jahre hat Lamb an dem Buch geschrieben, und in diesem Jahrzehnt ist viel passiert: der 11. September, der Irakkrieg, Guantánamo und Abu Ghraib, der Hurrikan Katrina in New Orleans. Auch diese Ereignisse finden Eingang in den 752 Seiten starken Wälzer, in dem der Autor das Schicksal seiner Helden mit aktuellen Ereignissen verwebt. Und mit einem Stück Historie, wenn sich Caelum auf die Spuren seiner fünf Generationen umspannenden Familie bis zum amerikanischen Bürgerkrieg begibt.

Wie seine vorhergehenden Romane hat auch "Die Stunde, in der ich zu glauben begann" eine komplexe, weit reichende Handlung. Trotzdem hat der Autor keinen Plot vor Augen, wenn er mit dem Schreiben beginnt. "Ich folge meiner Hauptfigur und schreibe intuitiv", sagt Lamb. "Dabei entstehen ganz verschiedene Inseln - Geschichten, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Ich habe mich immer wieder ermahnt, dass ich dieses Puzzle zusammensetzen muss. Das war ziemlich mühsam und gelang mir erst nach 500 Seiten."

Die erste "Insel" war Columbine. Lamb las Bücher und Artikel, doch den größten Teil recherchierte er im Internet, wo er den Polizeibericht und die Autopsieberichte fand, sich die Aufnahmen der Notrufe anhörte und sogar eine virtuelle Tour durch die nach der Schießerei verwüstete Bibliothek machen konnte. "Die Beschäftigung mit der Materie hat mich ziemlich deprimiert", sagt Lamb. Am meisten aber hätten ihn die Tagebucheinträge und die Videos der Mörder verstört, in denen sie ihre verhassten Schulkameraden ansprechen und ihre Opfer verhöhnen.

Wally Lamb schrieb einen Roman ohne zu fiktionalisieren

"Sie lachen und stellen sich vor, wie sie als 'Gespenster' in den Gehirnen der Überlebenden Flashbacks auslösen; wie sie sie in den Wahnsinn treiben." Lamb entschied sich, nicht nur wörtlich aus den Videos und Tagebüchern der Täter zu zitieren, sondern sie wie auch ihre Opfer - die Toten und die Überlebenden - bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Nach Erscheinen seines Buches in Amerika schrieben ihm Betroffene, dass sie dankbar seien, dass er dieses Thema aufgegriffen habe, ohne die Ereignisse zu fiktionalisieren. Auf einer Lesereise, die ihn nach Denver, in die Nähe von Columbine, führte, stand beim Signieren ein Mann in mittleren Jahren vor ihm und fragte, ob er "Erics Bruder" das Buch empfehlen solle. Als Lamb begriff, dass der Vater von Eric Harris, einem der Täter von Columbine, vor ihm stand, war er für einige Sekunden sprachlos. "Er war das Unglück in Person. Ich habe meine Hände ausgestreckt und nahm die seinen. Und dann sagte ich: ,Mr. Harris, ich habe keine Antworten für Sie.' - 'Ich habe auch keine,' erwiderte er."

Am Tag des Blutbads hatte sich Lambs Held Caelum freigenommen. Seine Frau überlebt den Anschlag, doch zu einem hohen Preis: Sie ist traumatisiert und nicht mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben. Das Paar zieht nach Connecticut, wo Caelum die Farm seiner Familie geerbt hat. Doch auch hier gelingt es Maureen nicht, in ein normales Leben zurückzufi nden; inzwischen ist sie abhängig von Medikamenten. Betäubt von Beruhigungsmitteln fährt sie einen Jungen zu Tode - und landet in jenem Gefängnis, das Caelums Urgroßmutter knapp hundert Jahre zuvor als erstes Frauengefängnis begründete.

Dieses Gefängnis, in dem Maureen fünf Jahre Haft absitzen muss, war eine zweite "Insel", die der Autor erst später geschickt mit der Romanhandlung verband. Die Situation und das Schicksal Gefangener treibt ihn schon seit Langem um, seit zehn Jahren hält er ehrenamtlich in einer Haftanstalt für Frauen kreative Schreibkurse ab. In der York Correctional Institution in Conneticut hatte eine Reihe von Selbstmorden zu einer verzweifelten Stimmung geführt, deshalb war der Bestsellerautor von der Bibliothekarin gebeten worden, einen Vortrag zu halten. Als ihn die Frauen am Ende des Besuchs fragten, ob er wiederkomme, hörte er sich zu seinem Erstaunen selbst sagen: "In zwei Wochen. Und bis dahin schreiben Sie zwei Seiten - worüber auch immer."

Wally Lamb bringt Frauen das Schreiben bei - im Gefängnis.

Seither lehrt er die Frauen, die eigenen Geschichten zu Papier zu bringen. Manche fand er so spannend, dass er sie veröffentlichte, in zwei Büchern, von denen eins mit dem Titel "Von der Seele geschrieben" auch auf Deutsch erschienen ist. Die Gefangenen erzählen von sich selbst, immer wieder geht es um Gewalt, um sexuellen Missbrauch. Wally Lamb: "Mir war bis dahin nicht bewusst, dass 70 Prozent der weiblichen Häftlinge Opfer von Inzest und Vergewaltigung sind. Es sind gerade die Opfer, die man in der Haft wiederfindet." Viele Frauen seien traumatisiert durch ihre Vorgeschichte, "und im Gefängnis werden sie unmenschlich behandelt". Willkür und Demütigungen seien an der Tagesordnung. All seine Erfahrungen sind in den Roman eingeflossen, viele Gefängnisszenen bis hin zu kleinen Details entsprechen der Realität.

Im Nachwort habe er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das "Quirk Correctional Institute" ein "fiktiver Ort" sei, sagt Lamb, doch dies habe er nur aus rechtlichen Gründen getan - "um nicht verklagt zu werden". Die Erlebnisse der Inhaftierten führten ihn schließlich auf eine dritte "Insel": Lamb begann sich damit zu beschäftigen, wie Frauengefängnisse in der Vergangenheit aussahen. Dabei stieß er auf Abigail Hopper Gibbons.

Die beeindruckende und couragierte Frau kämpfte im 19. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei und für Gefängnisreformen. Dabei setzte sie sich für separate Frauengefängnisse ein, bis dahin wurden Männer und Frauen gemeinsam eingesperrt. So entstand seine Romanfigur Lizzie Popper, deren Leben auf der Biografie der historischen Figur basiert. Ihr Ziel, ein Frauengefängnis zu gründen, erreicht erst ihre Enkelin, Caelums Urgroßmutter, im Jahr 1913. Über ihrem Schreibtisch in der "Connecticut State Farm for Women" hängt eine Tafel, auf der ihr Leitmotto eingraviert ist: "Eine Frau, die ihre Freiheit verliert, muss nicht auch ihre Würde verlieren."

Text: Christane von Korff Fotos: Kevin Moloney/Liaison Agency/Getty Images

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