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Wimmelwelt im Hinterhof

Ihr Humor kommt so still, zart und leise daher wie seine Schöpferin. Rotraut Susanne Berner ist eine Meisterin im Geschichtenerzählen, mit Pinsel und mit Zeichenstift – so wie in ihren berühmten Wimmelbüchern.

Nachts, da küsst die Susanne mit der geblümten Hose den Tom. Ja, genau den, mit den blonden Locken und dem Bart. Der im Frühling, Sommer, Herbst und Winter mit seiner roten Vespa durch die kleine Stadt braust. Susanne küsst ihn heimlich. Denn da ist auch noch Armin, der Buchhändler mit der runden Brille, den grauen Haaren und dem blau-weißen Ringelshirt. Susannes guter Freund. Susanne besucht ihn oft in seinem kleinen Laden. Wie es mit den beiden weitergeht? Wer weiß das schon?

Im wirklichen Leben sind sie nämlich ein Paar. Die Illustratorin Rotraut Susanne Berner, 60, und Armin Abmeier, ihr Mann. In Wirklichkeit trägt sie auch keine Blümchenhosen und komischen Hüte, die ihr ständig abhandenkommen. Sondern, wie heute, einen schwarzen Rollkragenpulli und einen grau melierten Tweedrock. Ganz schlicht. In ihrem Kopf ist es ja schon bunt genug. Rotraut Susanne Berner ist eine Meisterin im Erzählen. Geschichten ohne Worte. Geschichten mit Bildern, die leichfüßig dahintänzeln zwischen Fantasie und Wirklichkeit wie die Figuren in ihren inzwischen weltbekannten Wimmelbüchern. Die erleben auf acht großen Panoramaseiten die kleinen und großen Abenteuer des Lebens. So im Vorübergehen.

Rotraut Susanne Berner mag es, wenn nicht alles glasklar ist

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Im Grunde genommen sei es ja ein großer Romanzyklus, sagt ihr Verleger. Nicht ohne Ironie. Aber die gefällt ihr ja. Frau Berner mag es, wenn nicht alles glasklar erklärt wird, wenn Platz für eigene Gedanken bleibt. Sie hat ein untrügliches Gespür dafür, was Kinder mögen, nämlich "sich selbst einen Reim auf etwas zu machen". 2006 wurde die gebürtige Schwäbin für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Literaturpreises ausgezeichnet. 80 Text- und Bilderbücher – davon einige auch selbst geschrieben – und ungefähr 800 Buch-Einbände für Kinder und Erwachsene hat sie illustriert, darunter so Unterschiedliches wie Texte des literarischen Raubeins Charles Bukowski und den "Zahlenteufel" von Hans Magnus Enzensberger. Sie ist die Erfinderin vom Hasen Karlchen, den besonders kleine Kinder heiß und innig lieben.

Tiere zu vermenschlichen ist unter Pädagogen ja eigentlich verpönt. Aber Rotraut Susanne Berner kämpft seit Jahren gegen das Argument, Kinderbücher müssten einfach und durchschaubar sein. Im Gegenteil. "Die Welt ist nicht so", sagt sie, "so langweilig. Kinder lieben Quatsch." Zum Beispiel Elfen mit Nickelbrille, verliebte Hyänen, Prinzen in Badehose oder Hasen, die gern Fußball spielen. Der Erfolg gibt ihr recht.

Der Humor in ihren Illustrationen kommt so still, zart und leise daher wie seine Schöpferin. Die nimmt sich viel Zeit zum Betrachten, Zuhören, Erzählen. "Es ist doch herrlich, die Menschen zu beobachten", sagt Rotraut Susanne Berner. Von diesem zweiten Blick, den sie auf die Welt wirft, leben auch ihre Figuren. So liebevoll, so heiter, so virtuos, aber immer mit einem Augenzwinkern. Deshalb machen ihre Zeichnungen, die sie mit Buntstiften, Pastellkreiden und Gouache zu Papier bringt, auch den Großen Spaß. Trotzdem war sie nie zufrieden, nur eine Sache zu machen. Rotraut Susanne Berner wollte mehr, selbst schreiben zum Beispiel. "Mit 47 habe ich mein erstes Buch gemacht, ‚Das Abenteuer'." Ein Abenteuer war das auch für sie selbst. In 14 Tagen, und ohne einem Menschen davon zu erzählen, hat sie das Buch geschrieben, gezeichnet, kopiert, gebunden und ihrem Mann hingelegt. Armin Abmeier, ein begeisterter Comic-Art-Sammler und Herausgeber illustrierter Bücher, ist derjenige, der ihre Geschichten zum ersten Mal sieht, "mein allerwichtigster Kritiker. Das kann zuweilen sehr hart sein". Sie schmunzelt, als sie das sagt. Aber was er sage, sei für sie von unschätzbarem Wert, "einfach weil er so ein gutes Gespür hat".

In das Atelier von Rotraut Susanne Brenner würde sich jeder verlieben

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Die Wahlmünchnerin braucht nur den Kopf aus ihrem kleinen Hinterhof-Atelier in Schwabing zu stecken, und schon hat sie die ganze Wimmelwelt vor ihrer Nase. Nachmittags tollen dort die Nachbarskinder herum, vormittags hört man den Pausenlärm der Schule nebenan. Es gibt einen Blumenladen, einen Kiosk und den Italiener um die Ecke. Ein guter Platz für die kleinen Abenteuer des Alltags. Man kann sich sofort vorstellen, wie sie aus der Tür tritt und sie alle trifft: Gabriela, die Eisverkäuferin; Ina, die sich zu Hause immer langweilt; Silva mit den Kindergartenkindern oder Manfred, den Jogger, der ständig was verliert und einmal vielleicht sogar etwas Großes findet – die Liebe nämlich. Sie kommen einem alle so vertraut vor, könnten direkt bei einem selbst um die Ecke wohnen. Oder wie ein kleiner Fan ihr einmal geschrieben hat: "Ich finde es toll, dass Sie lauter Leute gemalt haben, die ich kenne. Meine Freundin Gesa zum Beispiel. Und das Mädchen auf dem Fahrrad mit dem Mann nebendran, das bin ich mit meinem Vater, als ich noch klein war."

Sogar in ihr Atelier würde sich jedes Kind auf der Stelle verlieben. In die steile Holzstiege mit den bunten Zeichnungen an den Wänden und in den großen Schreibtisch voller Farben, Stifte, Tuben und Pinsel. An den Wänden stapeln sich in den Regalen Bücher bis obenhin. Ein zauberhafter Ort, in dem es vor Geschichten nur so wuselt, gemalten und geschriebenen. Ein Ort zum Wegträumen von der Welt da draußen, der so winzig scheint wie eine Puppenstube und unglaublich gemütlich ist. Das Kleine und das Große. Ein faszinierender Gegensatz, der auch in Berners eigenem Leben eine wichtige Rolle spielt. Mit ihren Schwestern ist sie auf dem Land in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen. Ein schüchternes, zartes Mädchen mit dicken Zöpfen und großen braunen Augen. Ihre Eltern waren streng und protestantisch, intellektuell und liberal. Am Wochenende machte der Vater mit seinen Töchtern gern Ausflüge in die Stuttgarter Staatsgalerie.

Dort hat Susanne sich in die Bilder von Picasso verliebt, "jemand, der mich immer wieder verblüfft". Auch heute noch, wo sie doch alle seine Bilder in- und auswendig zu kennen glaubt. Mit drei Jahren wurde sie so krank, dass sie wochenlang in Quarantäne musste. Weggesperrt in ein steriles Krankenhauszimmer, umgeben von lauter Fremden. Keiner durfte sie besuchen. Das kleine Mädchen dem großen Unbekannten ausgeliefert – ein Gefühl, das sich tief in ihre Erinnerung eingebrannt hat. "Aber ich habe mit dieser Angst irgendwie gelebt." Die zu überwinden sei ein wichtiges Thema in der Kindheit, sagt sie, "aber das ist ja bei jedem so". Schon damals habe es sie nämlich magisch angezogen, das Schaurig-Schöne. "Mein Lieblingsbild war ,Die Toteninsel' des Malers Arnold Böcklin."

Die Angst war ein Motor für vieles.

Unvergessen bleiben auch die Nachmittage, als sie sich mit der alten Familienbibel mit den Kupferstichen ganz allein in eine stille Ecke verkrümelte. "Liebe, Macht, Gier und Eifersucht. In diesen archaischen Urgeschichten geht es doch um alles, was Menschen heute noch bewegt." Zum Gänsehautkriegen waren die Geschichten von Absalon, der an den Haaren aufgehängt wird, oder Samson, dem Starken, der mit seinen Muskeln einen Tempel einreißt. "Die Angst war für mich ein starker Motor für vieles."

Sie selbst hat keine Kinder. Vielleicht ist gerade deshalb die Nähe zu ihren eigenen Kindheitserlebnissen und Empfindungen noch so präsent, so ungetrübt. "Obwohl ich ja schon etwas länger erwachsen bin, kann ich mich noch sehr gut an die Gefühle erinnern, die ich hatte, als ich ein kleines Mädchen war." An die Ängste, aber auch an das Kribbeln, wenn etwas nicht so leicht zu ergründen war. So ist es auch in ihren Geschichten und Bildern. Manches ist leicht zu begreifen, manches will gefunden werden, und manches bleibt eben rätselhaft. So wie das Leben. Das ist auch nicht immer so leicht zu verstehen. Rotraut Susanne Berner mag Geheimnisse – auch in ihren Wimmelbüchern. So kommt es, dass nur sie allein weiß, wie der Schornsteinfeger heißt und mit wem die Busfahrerin verheiratet ist.

Text: Tatjana Blobel<br/><br/>Foto: Maria Dorner, Susanne Berner

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