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Elke Heidenreich: "Bücher, rettet mich!"

Es gibt Zeiten, da sind sie unsere besten Freunde. Sie erschaffen Welten, in denen man versinken kann. Sie spenden Trost, inspirieren, halten den Spiegel vor. Ein Leben ohne Bücher - unvorstellbar für Elke Heidenreich
Elke Heidenreich: "Bücher, rettet mich!"
© Credit: imago/Poling

Ich war Kind in der Nachkriegszeit, als die Mütter durch den Krieg hart geworden und die Väter zerstört waren. Die Ehen hielten mit Ingrimm so gerade noch, die Wohnungen waren eng, die Kinder lästig. Ich war das pflegeleichte Kind, weil ich in der Ecke saß, den Mund hielt und las, wenn sie sich anschrien. Ich las mich weg. "Alice im Wunderland", "Dr. Dolittle und seine Tiere", "Pu der Bär", "Pinocchio", "Der Wind in den Weiden", "Die grüne Schule", "König des Windes", ach so viele herrliche Bücher aus der evangelischen Leihbücherei - das war meine Welt, in die konnten mir die Eltern nicht folgen. "Du verdirbst dir die Augen" war der einzige Kommentar, und, ja, ich habe sie mir verdorben. Na und. Ich war viel krank als Kind. Lesen heilt keine kranke Lunge, aber es lenkt ab vom Elendsein, drei, vier Stunden, und danach ist man müde, schläft und hat schon wieder ein bisschen mehr Kraft.

Das pflegeleichte Kind wurde in der Pubertät das schwierige Kind: Es hatte sich allzu gründlich aus der Welt der Eltern weggelesen und war an ganz anderen Ufern in ganz anderen Welten gelandet. Eine Trennung war nach Zusammenstößen nun unvermeidlich - der erste große Schmerz, aber auch den heilte das Lesen. Die Russen! Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, was für eine Welt tat sich da auf! Die Amerikaner, Hemingway, Steinbeck, Upton Sinclair, Margaret Mitchell, "Vom Winde verweht", dieser große, sehr politische Südstaatenroman, weit mehr als nur das Liebesdrama zwischen Scarlett O'Hara und Rhett Butler, und dann die Entdeckung der Deutschen, Hesse, ach, der "Steppenwolf", dieses Lebensbuch!

Es macht wenig Sinn, aufzählen zu wollen, ich habe mich von Büchern geradezu ernährt. Ich las immer und überall, Tage und Nächte durch, unter der Schulbank in langweiligen Stunden, in meinem Zimmer, in der Straßenbahn, in Wartezimmern, kein Tag ohne ein Buch, ohne ein Abenteuer im Kopf, ich driftete aus meiner Welt einerseits immer weiter weg, andererseits fand ich allmählich meinen Platz darin. Dabei halfen Gedichte - Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Chris-tine Lavant, Mascha Kaléko, Rilke, der so geliebte Mörike - "Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden / dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht..." Ich schrieb dicke Kladden voll mit Kinderschrift, Tinte, seitenlang Gedichte, noch heute kann ich hunderte auswendig, in Angst-oder Schreckenssituationen sage ich sie mir innerlich auf, und es hilft immer, immer. Männer lesen keine Gedichte? Mit dem großar-tigen Rüdiger Safranski habe ich mal an einem Kneipentisch, umgeben von Lärm und Menschen, eine ganze Nacht lang Gedichte rezitiert, immer abwechselnd, er hat letztlich haushoch gewonnen. Er kannte noch mehr. Und wir sprachen darüber, was dieses Marathonlesen mit uns anstellt, was diese vielen Gedichte in unserem Körper mit uns machen.

Sie festigen, sie stärken, sie helfen, sie trösten, sie sind abrufbar, ewige Weisheiten, klug formuliert von Künstlern, die größer sind, waren als wir selbst. Angst vorm Tod? Ach, den Weg sind schon so viele gegangen - "Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen, lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen, mitten in uns". Wer sich das aufsagt (Rilke), hat gar keine Angst mehr, vor gar nichts. Alles ist doch gesagt. Ich kann die Welt nicht begreifen, ich begreife ja nicht mal mein eigenes Leben. Aber Hermann Hesse erklärt mir (wie in der Musik Wagners "Tannhäuser") die Zerrissenheit des Künstlers in der Gesellschaft, Christa Wolf schreibt über Kleist und die Günderrode, die sich beide jung umbrachten, wäre ihnen denn wirklich nicht zu helfen gewesen? Hans Henny Jahnn schildert das Zerbrechen am "normalen" Leben drastisch. Dostojewski fragt, ob Schuld gesühnt werden kann (nicht wirklich!), und Gontscharow warnt vorm Versinken in Lethargie. Flauberts Emma Bovary verreckt an eingebildeten Leiden-schaften (und schlechten Romanen!), Balzac seziert die Frau von 30, und García Márquez macht, dass ich Südamerika verstehe, obwohl ich nie da war. Updike erklärt mir, wie Kleinbürger ticken, und Marlen Haushofer, wie sehr wir den Kontakt zu Natur und Tieren verloren haben.

Die richtige Geschichte zur richtigen Zeit ist oft wirklich ein Angelpunkt im Leben

Virginia Woolf zeigt, wie zerbrechlich wir sind und wie schön der einzelne Augenblick sein kann, und Dorothy Parker ersäuft in Zynismus, wo Katherine Mansfield es noch schafft, nur ironisch zu bleiben. Was für Welten tun sich auf! Und das sollte nicht helfen, die unbegreifliche Welt, in der ich lebe, besser zu verstehen, mich besser darin zurechtzufinden? Manche Bücher sind und waren zu manchen Zeiten Lebensmittel, wichtiger als Essen und Trinken. Essen, trinken, atmen, das läuft so nebenbei, aber die richtige Geschichte zur richtigen Zeit ist oft wirklich ein Angelpunkt im Leben, eine Entscheidungshilfe, wenn etwas falsch läuft, ein Stoß in die richtige Richtung. Wer Jonathan Franzens "Korrekturen" gelesen hat, kann Weihnachten nicht mehr nach Hause fahren, wenn die Familie nicht wirklich eine ist. Die Lügerei hört auf. Richard Ford: Seine Kurzgeschichten kommen sanft daher und sind unter der Oberfläche von so gewaltiger Brutalität, wie uns manche Menschen ansäuseln, während sie uns gleichzeitig den Boden unter den Füßen wegreißen. Da hilft es, solche Mechanismen zu erkennen. Mir haben Bücher immer geholfen. Die schlechten ins (Müll-)Töpfchen, die guten ins Köpfchen. Ich verstehe nicht, wie man ohne sie leben kann. Ich konnte es nie.

Lesen als Therapie?

Von einer heilenden Wirkung der Literatur geht die Bibliotherapie aus. Noch ist sie im deutschsprachigen Raum nicht so verankert wie in den USA, aber auch hierzulande nutzen immer mehr Therapeuten die Möglichkeiten des Lesens, als Begleittherapie oder integriert in eine kreativ orientierte Psychotherapie. Ob Kriminalroman oder Liebesgeschichte – welche Lektüre individuell geeignet ist, findet ein erfahrener Therapeut im Gespräch heraus. Mehr Infos: Ausbildungen bietet das renommierte Fritz Perls Institut an (www.eag-fpi.com); Kontakte vermittelt die Deutsche Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie e.V. (www.dgpb.org); Literatur: Hilarion G. Petzold/Ilse Orth (Hrsg.): Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache (432 S.,29,80 Euro, Edition Sirius)

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