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Nomadin des Wissens

Mehrmals im Jahr bringt Jamila Hassoune Bücher in die Berge von Marokko, um den Menschen dort Lesen und Schreiben zu vermitteln - und die Liebe zur Literatur.

Bücher können gefährlich sein. So viel weiß Jamila Hassoune schon als Sechsjährige. Eines Nachts beobachtet das Mädchen, wie ihr Onkel die Schriften eines gewissen Lenin hastig unters Bett schiebt. Als die Polizei die Bücher dennoch fi ndet, verhaftet sie ihn. Es ist das Jahr 1970. Und Abdeljebbar Hassoune ist einer von vielen marokkanischen Regimekritikern, die im Gefängnis verschwinden. Erst nach fünf Jahren wird er wieder entlassen.

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Etwa 40 Jahre später. Die Librairie Hassoune liegt im Studentenviertel von Marrakesch. Die windschiefe eiserne Eingangstür ist einen Spalt geöffnet. Dahinter dicht gedrängte Holzregale mit ordentlich sortierten Büchern - in arabischer, französischer und englischer Sprache. In der Mitte des kleinen Ladens hockt eine Frau in Jeans und Dschellaba, dem traditionellen Gewand, das eigentlich Männern vorbehalten ist. Die kurzen schwarzen Haare sind zerzaust, der Blick ist konzentriert. Jamila Hassoune wühlt in einem Karton, verteilt den Inhalt einer gerade eingetroffenen Büchersendung auf dem Boden.

"Ich konnte damals nicht verstehen, warum mein Onkel wegen eines bisschen Papiers ins Gefängnis musste", sagt sie, während sie beiläufi g den Klappentext eines Gedichtbandes überfl iegt. Heute ist die Buchhandlung der 45-Jährigen die Schaltzentrale eines stadtbekannten Intellektuellennetzwerks. Neben Büchern von befreundeten Autoren verkauft Jamila Hassoune hier die Dissidentenliteratur von einst. An Marx, Engels und Lenin stößt sich die Zensurbehörde seit den neunziger Jahren nicht mehr. Auch wenn Titel wie das französische königskritische Enthüllungsbuch "Le Dernier Roi" kaum zu bekommen sind, ist seit dem Tod ebenjenes Königs, Hassan II., doch der größte Teil der Literatur erlaubt. So konnte auch Jamila Hassoune vor ein paar Jahren ihre "Caravane du Livre" gründen. Ein Literaturprojekt, das die Lesekultur auf dem Land fördert.

In Marokko können Bücher die politischen Unmündigkeit beenden

Als Jamila Hassoune im Jahr 1995 die Buchhandlung ihres Vaters übernimmt, hat sie keine abgeschlossene Ausbildung. Ihre Berufserfahrung: ein paar Gelegenheitsjobs, in einer Konservenfabrik und in einem Reisebüro. In Sachen Literatur ist sie Autodidaktin. Und nichts treibt sie mehr um als der Wunsch, möglichst vielen Marokkanern die Welt der Bücher zugänglich zu machen. Ihr Leben als Buchhändlerin beginnt sie mit einer unkonventionellen Recherche. Sie fährt in die Berge: Im Gebirge des Hohen Atlas will sie herausfinden, was die Menschen außerhalb der Großstadt lesen. Verstört kehrt sie von der Reise zurück. "Wer ahnt schon, dass es auf dem Land wirklich keine Bücher geben würde?" Sie lacht. Ein Leben ohne Lesen hat sich die Städterin kaum vorstellen können.

In den Bergen erfährt Hassoune, was es bedeutet, ohne Literatur aufzuwachsen: fehlende Buchhandlungen und Bibliotheken, eine Analphabetenrate von mehr als 50 Prozent, viele Schulabbrüche. Eine Folge: politische Unmündigkeit. Diese Zustände will Jamila Hassoune nicht hinnehmen. Seit Kindertagen weiß sie, wie wichtig Literatur ist. Als junges Mädchen wird sie von den Eltern zwar intellektuell gefördert, aber nach strengen arabischen Maßstäben erzogen. Schwimmbad, Kino und Partys sind tabu. Die Welt lernt Jamila vor allem lesend kennen.

Auch in den ländlichen Regionen könnten Bücher ein Weg aus der Isolation sein, denkt sie. Und macht sich im Herbst 1995 wieder auf den Weg. Sie packt ihr kleines grünes Auto bis unter das Dach voll mit Büchern und fährt zurück in die Berge. Die Bände, die sie in Ait Ourir, am Fuße des Hohen Atlas, verteilt, werden ihr buchstäblich aus der Hand gerissen. Bei Lesungen drängeln sich die Menschen um sie herum. Hassoune ist von dem Interesse überwältigt und beschließt, die Literaturfahrten auszuweiten. Mittlerweile ist die "Caravane du Livre" - ein Name, den die mobile Buchhändlerin dem der traditionellen Kamelzüge entliehen hat - zum Großprojekt gewachsen. Professoren, Schriftsteller und Verleger ziehen in ihrer Freizeit regelmäßig mit aufs Land. Wie gewinnt sie diese Menschen für ihr Projekt? "Ich rede einfach so lange auf sie ein, bis sie aus Resignation mitmachen", sagt Hassoune und lächelt.

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Ein- bis zweimal im Jahr rollt jetzt ein ganzer Reisebus in die ländlichen Regionen: an Bord eine Handvoll Intellektuelle aus dem Netzwerk von Jamila Hassoune, aber auch ehemalige politische Gefangene und Frauenrechtlerinnen. In abgelegenen Wüstenorten und versteckten kleinen Bergdörfern treffen sie auf Bäuerinnen, Straßenarbeiter und Schulkinder. In Grundschulen, Gemeindezentren oder auf Sitzkissen unter Palmen bringen sie ihnen das Alphabet und Schreiben bei. Und beim Couscous-Essen unterhält man sich auch über die Bücher aus der Librairie Hassoune.

An schulfreien Tagen und in den Semesterferien ist es ruhig in der Buchhandlung. Jamila Hassoune sortiert dann den Bestand neu. Besondere Exemplare kommen in die Auslage. "In einigen Fällen sind das auch Bücher, die durch die Arbeit in unseren Schreibwerkstätten entstanden sind", sagt Jamila Hassoune und stellt einen dicken gelben Band ins Fenster. "Manchmal sind unter den Teilnehmern echte Talente." Die Autoren und porträtierten Frauen des Sammelbandes "Femmes - Prison", Frauen - Gefängnis, haben Jamila Hassoune nachhaltig beeindruckt. In dem Buch geht es um Mütter, Schwestern und Ehefrauen von politischen Gefangenen, die sich in den siebziger Jahren aus traditionellen Geschlechterrollen befreit haben: Frauen, die auf offener Straße gegen den Staat demonstriert haben und sich mit den lokalen Machthabern anlegten. "Es ist ein wichtiges Buch darüber, wie die so genannte bleierne Zeit das ganze Land verändert hat", sagt Jamila Hassoune heute. Eine Zeit, über die sie immer wieder mit Christine Daure diskutiert.

Freiheit für den Geist, Freiheit für die Bücher in Marokko

Die französische Schriftstellerin unterstützt die "Caravane" seit Jahren und hat ebenfalls ein Buch über Frauen auf dem Land geschrieben. Einmal in der Woche besucht die Buchhändlerin die 83-jährige Freundin. Man spricht über selbst gemachte Marmelade, über die Familie und natürlich über Politik. Daure ist mit dem kommunistischen Widerstandskämpfer Abraham Serfaty verheiratet und kennt die Gefahr, in der marokkanische Intellektuelle gelebt haben. Ihr Mann saß 17 Jahre in einem der berüchtigten Kerker von König Hassan II. Seit ein paar Jahren, unter dem moderaten König Mohammed VI., entwickelt sich jedoch eine Gesellschaft, die gerade durch das Engagement von Frauen wie Jamila Hassoune für bessere Lebensbedingungen in der Stadt und auf dem Land sorgt.

Kein leichter Job. Jamila Hassoune lächelt trotzdem. Sie hat keinen Mann, keine Kinder. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehört ihren Buchprojekten. Die nächste Reise soll ins südliche Figuig gehen, in die Heimatstadt von Hassounes Eltern. Der Ort war im 15. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum des kulturellen Austausches in Marokko. Heute verlassen vor allem junge Leute den Ort, um in größere Städte oder nach Europa zu ziehen. Auch Jamila Hassoune wird sie nicht bewegen können zu bleiben. Aber sie hat ein paar Mitstreiter zusammengetrommelt, die den Jugendlichen zumindest das kulturelle Erbe ihrer Heimat näherbringen wollen. Hassounes Onkel wird ebenfalls dabei sein. Er wird aus der Zeit erzählen, als man zu Hause nicht mehr offen über Literatur diskutieren konnte. Und er wird die Jugendlichen drängen, sich für die weitere Liberalisierung ihres Landes einzusetzen. Bis kein einziges Buch in Marokko mehr verboten ist.

Text: Elisabeth Wellershaus Fotos: Anne Gabriel-Jürgens

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