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Ermittlungen im Eis

Minus 30 Grad, wochenlang kaum Sonne - Nordschweden im Winter ist magisch und mörderisch. Warum auch ihr neuester Krimi unbedingt in Lappland spielen muss, erzählte Schriftstellerin Åsa Larsson.

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Da oben", sagt Åsa Larsson und zeigt auf die Empore, "über der Orgel. Da hat sie gehangen, die tote Pastorin." Sie steht in der kleinen roten Holzkirche von Jukkasjärvi in Lappland. Sie hat noch ihre Fellhandschuhe an. Draußen zeigt das Thermometer fast 30 Grad unter null an. Drinnen knacken die alten Holzbänke in der Heizungsluft, es ist skandinavisch gemütlich. So gemütlich jedenfalls, wie ein Tatort sein kann. Denn in diesem Haus Gottes hat Åsa Larsson die Pastorin Mildred Nilsson umgebracht, in wilder, unkontrollierter Raserei erschlagen, auf Seite 13 in "Weiße Nacht", ihrem zweiten Buch. "Ann-Marie, die Kantorin, hat mir erzählt, dass sie sich mit sehr gemischten Gefühlen an die Orgel setzt, seit sie das Buch gelesen hat", sagt Larsson. Und lacht. Åsa Larsson lacht ziemlich viel. Sehr viel sogar für eine, die ihr Geld mit Mord und Totschlag verdient. Die Schwedin schreibt Krimis. 2003 erschien ihr umjubeltes und mit Preisen überhäuftes Debüt "Sonnensturm", jetzt gibt es mit "Bis dein Zorn sich legt" den vierten Band ihrer Erfolgs-Reihe. Es sind mystische Geschichten. Psychologische. Atmosphärische. Es geht um Schuld und Sühne in ihren Büchern, um Schatten der Vergangenheit, um Vorurteile. Und um die Welt, in der die Krimis spielen: die Gegend um Kiruna. Åsa Larsson ist mit uns hier oben unterwegs, zeigt uns Tatorte, real existierende Fixpunkte im erfundenen Leben ihrer Hauptpersonen. Und diese Punkte liegen im Umkreis der Bergarbeiterstadt in Lappland, ganz oben auf der Schwedenkarte, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises. Es ist ihre Heimat. Åsa Larsson, 42, gelernte Steueranwältin, Mutter von zwei Kindern, wohnt heute in der Nähe von Stockholm. Aber sie ist ein Kind des Nordens. Und der lässt sie nicht los, macht ihr Sehnsucht. Und Heimweh, immer wieder Heimweh.

Im Buch von Åsa Larsson müssen einige Geistliche dran glauben

Nach dieser Kirche in Jukkasjärvi zum Beispiel, von Kiruna aus 18 Kilometer den Fluss runter. Hier, in einer freikirchlichen Gemeinde, hat sie große Teile ihrer Jugend verbracht, hat sich dazu berufen gefühlt, ihr Leben Gott zu verschreiben. Bis ihr dieses Leben irgendwann aufzeigte, dass die Welt nicht ganz so schwarz-weiß ist, wie ihr die christlich-fundamentalistischen Pastoren immer erklärt hatten. Und sie begriff, wie viel Druck, Enge und Unterdrückung in ihrer Gemeinde herrschten. Åsa Larsson verlor nicht ihren Glauben, aber sie entwickelte einen ordentlichen Zorn auf die Kirche. Den lässt sie jetzt raus: Die Pastorin von Jukkasjärvi war nicht das erste Mitglied des Klerus, das sie um die Ecke gebracht hat. In Band eins mussten noch mehr Geistliche dran glauben.

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In ihrem neuen Buch kommen keine Priester mehr zu Schaden, sondern ein junges Paar. Wilma und Simon, 17 und 18 Jahre alt, tauchen in einem vereisten See nach einem Flugzeug, das früher einmal dort abgestürzt sein soll. Als die beiden wieder auftauchen wollen, ist das Eisloch mit einer ausgehängten Tür verschlossen, jemand steht darauf - sie ertrinken jämmerlich. Die Leiche des Jungen wird gar nicht, die des Mädchens ein halbes Jahr später gefunden. Erst jetzt wird aus einem Vermisstenfall ein Todesfall, können die Ermittlungen anlaufen. Geleitet werden sie auch in diesem Band wieder von zwei besonders starken Ermittlerinnen: der Polizistin Anna- Maria Mella. Und Rebecka Martinsson, ehemals Steueranwältin in Stockholm, ab Band drei Staatsanwältin in Kiruna.

Zwei Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die Polizistin: klein, blond, patent, pragmatisch, einfühlsam. Die Staatsanwältin: groß, dunkel, schön, verschlossen, psychisch angeschlagen, eigenbrötlerisch und als langjährige Großstädterin ohnehin ein Dorn im Auge der knorrigen Norrländer. Die beiden Frauen sind einander fremd. Und trotzdem verbindet sie etwas, was man nicht so recht fassen kann. Was womöglich daran liegt, dass sie beide unverkennbare Züge ihrer Erfinderin tragen. Rebecka hat Åsa Larssons Biografie geerbt: das Mädchen aus Kiruna, das zum Studieren weggeht und in Stockholm als Steueranwältin arbeitet. Und Anna-Maria erinnert in Art und Optik an die Autorin. Auch die ist klein, 1,56 Meter gerade einmal, hat ein ausgeprägtes Kinn, ist offen, fröhlich und sehr aufmerksam.

Aber von alldem will Larsson nichts wissen. Von ihr stecke nichts in den Figuren, erklärt sie, "Rebecka würde mich nicht einmal mögen". Und bei der Polizistin habe sie an eine Freundin gedacht, "die wohnt da hinten, auf der anderen Seite der E 10", sagt sie und zeigt auf eine Siedlung jenseits der Fernstraße. Sie steht jetzt vor dem Stadshus in Kiruna, dem Rathaus, das 1964 zum schönsten öffentlichen Gebäude Schwedens gewählt wurde. Hüpft im strengen Dauerfrost auf und ab und freut sich wie, jawohl, eine Schneekönigin. In Mariefred, ihrem Wohnort bei Schloss Gripsholm, hat es gestern geregnet, von Schnee keine Spur. Hier oben aber ist jeder Quadratmeter weiß, sogar die Häuser tragen einen weißen Mantel aus Reif. Auch das große Polizeigebäude ein paar hundert Meter die Straße rauf, ein schmuckloser Backsteinbau. "Da haben die beiden Frauen ihre Büros", sagt Larsson, "und müssen sich mit ihren männlichen Kollegen rumärgern." Ihre Schuhe knirschen im Schnee. Im Winter ist es nicht besonders lang hell, wochenlang geht die Sonne gar nicht auf. Dann ist der Himmel über Mittag oft klar, zartblau, vier, fünf Stunden lang dämmert es, ist der Horizont rosa, lila, orange, der Schnee liegt über allem wie blaue Milch und verschmilzt im Norden mit dem Himmel. So wie heute. "Ich liebe es hier", sagt Larsson, "es ist ein magischer Ort. Ich bin hier glücklich."

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Es ist eine extreme Gegend. Die harten Winter gehen von Anfang Oktober bis in den Mai, in den kurzen, hellen Sommermonaten machen einem Mücken und andere Insekten das Leben mitunter zur Hölle. Das prägt die Menschen. Sie seien, sagt Larsson, sich sehr bewusst, dass sie anders seien. "Die Leute hier sind sehr direkt, manchmal ruppig, aber fast nie falsch", sagt Åsa Larsson und lacht mal wieder. "What you see is what you get." Das gilt auch für die meisten Personen in ihrem neuen Buch. Anna-Maria, die Polizistin, ist offen und freundlich, aber zwei Verwandte des verschwundenen Mädchens machen von der ersten Sekunde an keinen Hehl daraus, dass sie weder die tote Wilma noch die Polizistin irgendwie leiden können. Es steckt verblüffend wenig Arglist in den Büchern der Åsa Larsson.

Dafür Übersinnliches. Wilma schwebt als eine Art erzählender Geist durch die Geschichte. Und in den Bänden davor spielt Religion eine große Rolle. Das hat mit ihrer eigenen Familienbiografi e zu tun. Ihr Großvater - 1936 Olympiasieger über 18 Kilometer im Skilanglauf - war ein bekannter Priester, ihr Vater konvertierte aus jugendlichem Protest zum Kommunismus. Åsa selbst ("Wie rebelliert man gegen kommunistische Eltern? Man geht in die Kirche!") kam dann wieder nach ihrem Großvater. All das fließt ein in ihre Bücher.

Larsson war 22, als sie Kiruna verließ. Sie studierte Jura in Uppsala, zog nach Mariefred, bekam mit Stella eine entzückende Tochter - und eine Krise. Etwas sollte sich ändern in ihrem Leben, beschloss Åsa Larsson zu Beginn des Jahrtausends. Den Mann wollte sie behalten, reisen war nicht so interessant für sie, nein, in ihrem Kopf sollte etwas passieren. Sie hatte das Gefühl, der Welt etwas mitteilen zu wollen. Åsa Larsson belegte einen Kurs für kreatives Schreiben. Dass es einer für Krimis war: purer Zufall. Am Tag des Erscheinens von "Sonnensturm" schmiss Larsson ihren Anwaltsjob. Vom Vater ihrer beiden Kinder hat sie sich getrennt, jetzt hat sie einen neuen Freund, der seinerseits ein Kind hat. Aber alle zusammen haben sie letztes Jahr Weihnachten gefeiert. "Ein sehr schwedisches Modell", sagt Larsson.

Seit fast 20 Jahren ist sie fort aus Kiruna, aber für mehrere Wochen im Jahr kehrt sie zurück, um für ein neues Buch zu recherchieren. Sie wohnt dann oft bei ihrem Vater, dem ehemaligen Bibliothekar der Bergwerksstadt. Auf sechs Bände hat sie die Reihe um Martinsson und Mella angelegt, zwei fehlen noch, und die würde sie am liebsten im eigenen Haus schreiben. Sie sucht etwas in und um Kiruna, ein kleines eigenes Reich für den Heimaturlaub.

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In Kurravaara zum Beispiel. 13 Kilometer nördlich von Kiruna liegt das Dorf, ihr Vater ist dort aufgewachsen. Es ist dunkel geworden, aber nicht düster, der Schnee reflektiert das Mondlicht. Oft flackert an Abenden wie diesen das Nordlicht am Himmel. Heute nicht. Der Weg führt über den Torne Älv, den größten Fluss Lapplands, den Fluss, aus dem man die Leiche von Wilma holt, dem tauchenden Mädchen im neuen Buch. Ihr Tod bleibt lange Zeit ein Rätsel. Aber dann stellt sich heraus, das Wilma unfreiwillig einem Geheimnis auf der Spur war, das zurückreicht in die Zeit der Nazi-Besatzung, in der einige Menschen in ihrer Umgebung eine große Schuld auf sich geladen haben. Larsson liebt so etwas: Geschichte und Geschichten vermischen. Deshalb sind ihre Figuren auch Freunden und Verwandten nachempfunden, sind Orte wirklich und Häuser echt. "Da vorn ist es", sagt sie. Kurravaara, ein paar unscheinbare Häuser auf großen Grundstücken, Platz ist hier genug. Sie biegt ab in den Erik-Larsson-Väg, benannt nach ihrem Großvater. Sein Haus steht in der Biegung, grau, zwei Stockwerke, aus Eternit. Die Fensterläden sind geschlossen, hier war schon länger niemand mehr. Åsa Larsson hüpft in den Garten, "komm, von hinten kann man mehr vom Haus sehen!", der unberührte Schnee geht ihr bis an die Oberschenkel.

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Das Haus gehört jetzt ihrer Tante und ihrem Cousin. Sie nutzen es als Ferienhaus. Larsson dagegen nutzt es immer: In ihren Büchern wohnt hier Rebecka Martinsson, es ist das Haus, das sie bezieht, als sie sich entschließt, ihre Anwaltskarriere in der Hauptstadt sausen zu lassen. Ihr Freund in Stockholm drängt Rebecka im neuen Buch immer wieder zur Rückkehr. "Ich muss hier sein", sagt Rebecka zu ihm, "ich kann nicht anders." Als hätte der Norden einen Sog, der einen nicht loslässt - so empfindet sie diese Gegend. Ein Weg führt zum Fluss hinunter, der jetzt keiner ist, sondern ein breites, langes Band aus Eis. Der Schnee knistert unter den Füßen, es ist das einzige Geräusch. Diese Stille. Dieser Frieden, tiefgefroren bei minus 28 Grad. Åsa Larsson atmet tief ein, die Härchen in der Nase frieren zu Klumpen. "Irgendwann will ich wieder hier leben", sagt sie, "genau hier."

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Arne Dahl: "Totenmesse"10.40 Uhr, Stockholm: Im noblen Stadtteil Östermalm überfallen zwei Russen eine Bank. Doch anstatt sich das Geld zu nehmen und zu fl üchten, nehmen die beiden Geiseln. Und bald stellt sich heraus, dass es ihnen gar nicht um Geld geht. Die Stockholmer Elite-Einheit der Polizei, das A-Team um Kerstin Holm und Paul Hjelm, übernimmt den Fall. Und Hjelm hat noch ein persönliches Interesse: Seine Ex-Frau ist eine der Geiseln . . . Arne Dahls Krimis um das A-Team waren ja schon immer besonders komplex und spannend. Der neue ist sein bester. (Ü: Wolfgang Butt, 416 Seiten, 19,95 Euro, Piper)

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Johan Theorin: "Öland"Was für ein Albtraum: Ein Kind verschwindet. Der sechsjährige Jens wird vom dichten Nebel der Insel Öland verschluckt und taucht nicht mehr auf. Zwanzig Jahre später erhält Julia, die Mutter des Jungen, einen ungeheuerlichen Anruf von ihrem Vater: Es gibt einen Hinweis, sie soll nach Öland zurückkehren und ihm bei der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn helfen. Gerüchteweise soll ein gewisser Nils Kant den Jungen umgebracht haben. Mysteriös ist dabei allerdings, dass dieser Mann schon als tot galt, als der Junge verschwand. In Schweden ist Johan Theorin schon Kult - und bald auch im Rest der Welt: Das Buch wurde in 13 Sprachen übersetzt, die internationalen Filmrechte sind verkauft. (Ü: Kerstin Schöps, 446 Seiten, 19,90 Euro, Piper)

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Camilla Läckberg: "Die Totgesagten"Polizist Patrik Hedström und seine neue Kollegin Hanna Kruse werden zu einem Unfallort gerufen. Ein Wagen ist von der Straße abgekommen, die Fahrerin wird tot aufgefunden. Neben der Leiche: eine Seite aus "Hänsel und Gretel". Wenig später ein Mord: Eine Frauenleiche wird in einem Müllcontainer entdeckt. Neben ihr: eine Seite aus "Hänsel und Gretel". Das Ermittlerduo stößt auf eine ungeahnte Mordserie. Vom Täter allerdings gibt es keine Spur - zunächst ... (Ü: Katrin Frey, 416 Seiten, 19,90 Euro, List)

Fotos: Stefan Volk Text: Stephan Bartels

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