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Warum Bewegung Schmerzmittel ersetzen kann

Warum Bewegung Schmerzmittel ersetzen kann
© Sonja Materner
Dass regelmäßiges Training uns gesund hält, wissen wir. Aber das ist noch lange nicht alles, denn Sport kann auch effektiv gegen Schmerzen helfen.

Es sticht, pocht, brummt im Kopf. An Sport ist nicht zu denken. Oder jetzt erst recht? Laut einer Studie des Universitätsklinikums Kiel lohnt es sich, konsequent und regelmäßig die Sportschuhe zu schnüren: Migränepatienten, die dreimal pro Woche eine halbe Stunde in moderatem Tempo walken oder joggen, ersparen sich 20 bis 45 Prozent ihrer Kopfschmerzattacken. Als Grund vermuten die Forscher einen gesunkenen Stresspegel, Ausdauersport wirkt wie ein Entspannungstraining.

Und Sport kann noch mehr: Ob Kopf- oder Knieschmerzen, Rückenbeschwerden oder Rheuma - Forscher bescheinigen regelmäßiger Bewegung einen Anti-Schmerz-Bonus, die Doktrin der Schonung gilt längst als überholt. Laut einer Studie der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg kann Training sogar Schmerzmittel ersetzen. Demnach sind Sportler gegenüber Nichtsportlern zwar nicht weniger schmerzempfindlich, aber dafür schmerztoleranter. Sie nehmen Schmerzen als weniger dominant wahr. Ein Ansatz, der neue Denkrichtungen für chronische Schmerzpatienten eröffnet: Sport als therapeutische Maßnahme.

Auch Dr. Andreas Heißel, Standortleiter und wissenschaftlicher Koordinator im Sport-Gesundheitspark Berlin e. V. / Zentrum für Sportmedizin, bestätigt die schmerzlindernde Wirkung von Bewegung: "Viele unserer Teilnehmer haben dank Training weniger Schmerzen oder sind sogar schmerzfrei. Diejenigen, deren Schmerzen sich nicht reduzieren lassen, können meist besser mit ihnen umgehen."

Ein wichtiger Grund dafür: Schmerzen sind oft mit einer erhöhten Muskelspannung verbunden; dagegen kann Bewegung helfen. Die Muskulatur wird so leistungsfähiger, verklebte Faszien lösen und glätten sich. "Dadurch wird das Risiko von Schmerzen verringert. Außerdem spielen psychosoziale Aspekte eine wichtige Rolle", erklärt Andreas Heißel.

"Eine aktuelle Studie zeigt, dass auch Vereinsamung zu Schmerzen führen kann. Sport im Team oder in betreuter Form bei einem Trainer macht also doppelt Sinn." Entscheidend ist dabei vor allem der Perspektivwechsel der Betroffenen - und nicht so sehr die Sportart oder der Kraftzuwachs. "Wir brauchen ein gewisses Maß an Kraft, aber die Gleichung 'mehr Kraft gleich weniger Schmerz' geht nicht auf", so der Sportwissenschaftler, der an der Universität Potsdam forscht und lehrt. "Viel wirksamer ist das Bewusstsein, dass ich selbstverantwortlich aktiv werde und daran glaube, dass ich meinen Zustand ändern kann. Dabei ist die Sportart zweitrangig."

Ob Ausdauersport oder Krafttraining besser helfen, ist individuell verschieden. "Wenn bei Rückenschmerzen zum Beispiel die Nerven komprimiert werden, sollte man sicherlich nicht joggen, das verschlimmert die Beschwerden eher. Andererseits hilft es manchen Menschen bei Verspannungen", weiß Heißel aus Erfahrung. Auch schonende Sportarten wie Aquafitness, die als grundsätzlich empfehlenswert gelten, verstärken manchmal Schmerzen. "Entscheidend ist, aus dem Schmerzmuster herauszukommen."

Bei orthopädischen Beschwerden wie Rücken- oder Knieschmerzen befürwortet Andreas Heißel ein funktionelles Kräftigungsprogramm. Davon profitieren nicht nur die Muskeln, sondern auch die Faszien. Das Tolle daran: Die Übungen mit dem eigenen Körpergewicht reduzieren Schonhaltungen und Ausweichbewegungen und ersetzen sie durch das ursprüngliche oder ein neues schmerzfreies Bewegungsmuster.

Wichtig ist die professionelle Anleitung, zum Beispiel durch einen Sporttherapeuten, der die exakte Ausführung sowie geeignete Intensität der Übungen überwacht und die Angst nimmt, unter der viele Schmerzpatienten leiden. Grundsätzlich sollte die Ursache von Schmerzen immer vorab durch einen Arzt abgeklärt werden. Bei akuten Entzündungen, Verletzungen oder Überlastungen ist Training nicht angezeigt.

"Allerdings empfehle ich, immer auszuprobieren, was einem guttut, und sich auf das eigene Körpergefühl zu verlassen", sagt Sportwissenschaftler Heißel. Wer achtsam und moderat vorgeht, darf selbst bei Schmerzen Sport machen. Gerade bei chronischen Beschwerden kann das sinnvoll sein. "Die Grundregel: Der Schmerz darf sich während und nach dem Training nicht verstärken." Um dies zu überprüfen, sollten Betroffene auf Schmerzmittel verzichten, so dass sie den Körper tatsächlich wahrnehmen.

Stimmt die Trainingsdosis, lassen sich Schmerzen innerhalb von sechs bis acht Wochen spürbar reduzieren. Dafür reicht oft bereits eine gezielte Trainingseinheit pro Woche. Zu Beginn sollten Patienten auf ihren gewohnten Sport verzichten und anders als sonst trainieren, um eingefahrene Bewegungsmuster zu verlassen. Generell spricht für Schmerzgeplagte nichts gegen ein zwei- bis dreimaliges Kraft- oder Ausdauertraining wöchentlich. Oder die tägliche moderate Funktionsgymnastik. Sinnvoll ist auch ein Übungsrepertoire, dass bei Verspannungen im Büro oder bei akuten Schmerzen hilft. "Wenn ich meinem Schmerz aktiv begegne und ihn annehme", so Heißel, "habe ich auch die Zuversicht, daran etwas ändern zu können."

Diese Methoden helfen

Erste-Hilfe-Übungen gegen Rückenschmerzen

Text: Michaela Rose. BRIGITTE woman 07/2014

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