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Meine Freundin trinkt zu viel

Meine Freundin trinkt zu viel
© AndreyCherkasov/shutterstock
Einen Grund, miteinander anzustoßen, fanden wir immer. Dass meine Freundin zu viel trinkt, wurde mir erst mit der Zeit bewusst. Wo verläuft die Grenze zwischen Genuss und Gefahr?

Wir haben uns über Männer unterhalten, über Sex, über die Wechseljahre, haben uns Tipps für den Umgang mit pubertierenden Kindern gegeben, uns in Mode- und Figurfragen beraten. Wir haben zusammen geweint und gelacht. Eigentlich dachte ich, mit meiner Freundin könnte ich über alles reden. Aber es gibt ein Thema, das ich nicht so einfach ansprechen kann: Meine Freundin trinkt zu viel. Und ich mache mir Sorgen um sie.

Warum jetzt auf einmal? Wie kommt es, dass ich mir Gedanken mache über die Anzahl geleerter Gläser pro Abend? Wo verläuft die unsichtbare Grenze zwischen Genuss und Gefahr?

Es sind viele kleine Dinge, die zusammenkommen: Als wir neulich abends lange telefonierten, vernahm ich Schluckgeräusche. Sie könnte natürlich Wasser getrunken haben. Doch später ließ ihre Artikulation nach, schließlich lallte sie und blieb irgendwann in halbfertigen Sätzen hängen. Immer öfter verlegt sie die Schlüssel und sucht ihre Geldkarte, manchmal nickt sie am Tisch ein, klagt über Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Stress im Job und miese Stimmung. Und sie sieht oft sehr erschöpft aus.

Alkohol ist die Volksdroge Nummer eins: legal, billig, verfügbar.

Wenn ich sie besuche, ist die Sektflasche meistens schon geöffnet, und es stehen Gläser auf dem Tisch. Und ich? Sage: "Prost! Auf den schönen Abend!" Oder auf was auch immer. Manchmal habe ich Wein mitgebracht statt Blumen. Jetzt denke ich: Bin ich ein Dealer? Das will ich nicht. Ich will nicht mit einem Glas in der Hand Pate stehen, wenn aus dem gemeinsam zelebrierten Spaß eine persönliche Katastrophe wird.

Alkohol ist der Stoff, dessen schädliche Wirkung bestens dokumentiert ist. Das disqualifiziert ihn in unseren Augen aber noch lange nicht als Genussmittel. Haschisch, härtere Drogen, auch Nikotin - alles schwer verdächtig, teilweise verboten. Nur am Menschenrecht auf beduselte Köpfe ist offenbar nicht zu rütteln. Alkohol ist nun mal die Volksdroge Nummer eins. Legal, billig, verfügbar.

Ein bisschen Gift muss sein, glauben viele. Ein besonders trinkfreudiger Freund witzelt gern: "Ich habe kein Alkoholproblem - höchstens, wenn keiner da ist." Ha, ha. Wie traurig. Auch wissenschaftliche Beweise werden zitiert, dass selbst die Tierwelt sich gern an vergorenen Früchten erfreut. Die Lust am Rausch ist demnach genetisch verankert. Dann braucht man nur noch auf die uralten Künste des Weinkelterns und Bierbrauens zu verweisen - und fertig ist die harmlose Erklärung für das kollektive Dauergelage. Warnungen vor dem feuchtfröhlichen Element gelten als moralinsauer, Hinweise auf schädliche Nebenwirkungen als lustfeindlich. Ein gutes Essen ohne Wein? Unmöglich!

Sind die nettesten Gastgeber nicht zugleich die eifrigsten Dealer?

Aber gibt es überhaupt noch Ereignisse, bei denen nichts Alkoholisches aufgetischt wird? Sind die nettesten Gastgeber nicht zugleich die eifrigsten Dealer? Brunch, die elegante Form des Tafelns tagsüber nichts anderes als Lunch mit Prozenten. Bei jeder Vernissage ist Ausschank. Bei jeder Party sowieso. Auf Erfreuliches muss man anstoßen, auf Trauriges erst recht. Die Urlaubsrunde mit den Kolleginnen ist vor und nach den Ferien verbreitet. Einstand, Ausstand - ohne Alkohol geht gar nichts. Wo wir auch hinkommen, zu Freunden, die gerade umgezogen sind, zur Firmenfeier, ins Hotel, zum Date, zum Einkauf in einer besseren Boutique - immer ist er schon da, der vertraute und beliebte Stimmungsmacher.

Jugendliche schämen sich nicht mehr, wenn sie nach dem Feiern einen Filmriss hatten und am nächsten Tag mit einem Kater rumhängen. Sie prahlen damit. Die Komasäufer, von denen wir in der Zeitung lesen, werden immer jünger. Gut, die meisten Menschen können mit Genuss trinken, und sie können es jederzeit sein lassen. Es ist ihr freier Wille, ob sie Bier oder Apfelschorle bestellen. Sie spüren auch, wann es genug ist. Aber viele verlieren mit der Zeit die Freiheit der Wahl. Das sind die Kollateralschäden einer fest etablierten Trink-Unkultur.

Alkoholiker werden krank von demselben Zeug, das andere nur belustigt. Es ist wie russisches Roulette, wenn wir gedankenlos Drinks kippen - keiner weiß, wann und bei wem der Genuss in Sucht umschlägt. Bei wem die Alkoholkrankheit mit all ihren Härten ausbricht. Wer nach viel zu vielen Anlässen mit viel zu vielen Prozenten im Laufe des Lebens nicht irgendwann am Glas hängt, ist nicht der bessere Mensch, er ist auch nicht willensstärker als ein Abhängiger - er hat einfach Glück mit seinen Genen. Zu 60 Prozent, meinen Experten, ist es erblich, ob wir abhängig werden. Doch das ist es nicht allein.

Es ist, als ersehne eine ganze Gesellschaft berauschende Auswege.

Nie war Reinrutschen in den krankheitswertigen Suff einfacher als heute. Druck am Arbeitsplatz, Druck in den Familien, Druck, trotzdem gut drauf zu sein - allgegenwärtige Gründe, schnelle Entspannung zu suchen. Es ist, als ersehne eine ganze Gesellschaft berauschende Auswege. Die Zahl der Alkoholsüchtigen steigt rasant: seit 2006 um 36 Prozent. Fast zwei Millionen Deutsche sind betroffen. 9,4 Millionen pflegen ein riskantes Trinkverhalten.

Dabei macht zu viel Alkohol nicht nur krank und dumm, er kostet auch das Leben. Wer abhängig ist, lebt im Durchschnitt 20 Jahre weniger. So das Ergebnis einer neueren Studie der Greifswalder Universität. Die Forscher überraschte besonders, wie groß die Auswirkungen für alkoholabhängige Frauen sind. Das Risiko, früh zu sterben, ist für sie fast fünfmal höher als bei nicht abhängigen Frauen. 14,3 Prozent der Frauen trinken zu viel, also regelmäßig mehr als das, was Experten für unbedenklich halten. Und sie rutschen schneller in die Abhängigkeit als Männer. Grund dafür ist ihr anderer Körperbau. Frauen haben mehr Fett und weniger Wasser im Körper als Männer, das führt zu einer höheren Konzentration von Alkohol im Blut. Zudem greift das Zellgift Alkohol Frauenhirne stärker an, das fanden Forscher vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit heraus. Behandlungs- und Beratungsbedarf in Sachen Trinkgewohnheiten besteht nach ihrer Einschätzung bei zehn Millionen Menschen.

Gesoffen wird zusammen - gelitten allein.

Auf zwei alkoholkranke Männer kommt mittlerweile eine alkoholkranke Frau. Oft trinken sie heimlich, setzen die legale Droge ein, um Sorgen zu vergessen, Zumutungen zu ertragen. Bleiben lange unauffällig, funktionieren - bis zum Zusammenbruch. Männer suchen eher die Geselligkeit, trinken, um in Gesellschaft locker zu sein. Auch wenn Frauen beim gewohnheitsmäßigen Trinken fast nachgezogen haben - Alkoholikerinnen dürfen auf weniger Verständnis hoffen. Da gelten alte Konventionen: Männer verlassen ihre alkoholabhängigen Frauen eher, als Frauen das mit ihren suffkranken Männern tun.

Der abhängige Trinker steht auf der anderen Seite der fröhlichen Zechgemeinde, und er darf sein Problem nicht so einfach zugeben. Paradox: Einerseits ist Trinken schon beinah launiges Pflichtprogramm, andererseits sollen seine unliebsamen Folgen bitte schön nicht die Stimmung verderben. Gesoffen wird zusammen - gelitten allein. "Für mich bitte ein Glas Wasser, ich bin trockene Alkoholikerin!" - den Satz muss man erst mal rausbringen, wenn alle in der Runde ein Glas Prosecco in der Hand halten. Ein Bekenntnis dieser Art ist wahrscheinlich noch schwerer, als die Rolle des spießigen Spielverderbers zu übernehmen.

Spaßbremse, Moralapostel - das will keiner sein. Aber zusehen, wie ein mir naher Mensch in sein Verderben rennt, das will ich noch viel weniger. Es muss sein. Ich werde meiner Freundin die Meinung sagen, und ich werde ihr Hilfe anbieten. Ich werde sie zu Teestunden einladen statt zum Rotweinabend, Spaziergänge und Galeriebesuche vorschlagen statt Kneipentreffen. Ich werde nie wieder Sekt mitbringen. Und im Kino trinken wir Sprudel. Wir werden Expertinnen für Saftschorlen. Ich wünsche mir, dass wir üben, das Leben mit offenen Blicken zu sehen - auch ohne tiefen Blick ins Glas. Dass wir das Leben feiern mit dem Lebenselixier Wasser. Klingt vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Aber seit wann tun wir eigentlich nur das, was alle machen? Gegen den Strom schwimmen - das kann auch sehr lustig sein. Es wäre bestimmt ein guter Anfang.

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