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Wenn die Lebenslust verschwindet

Wenn die Lebenslust verschwindet
© Borges/A.B./Corbis
Wenn eine Depression die Seele verfinstert, ist der Weg zurück ins Licht meist lang. Eine Betroffene schildert ihre Erfahrungen mit Depressionen.

Tabletten oder Auto? Sollte sie die Kinder mit in den Tod nehmen oder lieber vorher zu den Eltern bringen? Wenn Sibylle Mark (Name von der Redaktion geändert) über den Tiefpunkt ihres Lebens erzählt, über die Wochen und Monate, in denen sie eigentlich nur noch ans Sterben dachte, bekommt ihre helle Stimme einen bleiernen Klang. Ganz nüchtern, so wie andere Menschen einen Einkaufszettel schreiben, überlegte sie damals: Ob ihr Mann wohl eine neue Frau finden würde? Wie es wäre, gegen einen Baum zu rasen? Oder wäre es besser, mit Tabletten einzuschlafen, nie mehr aufzuwachen?

Sie hatte ein Depot gesammelt, versteckte die Pillen in der Schublade, unter der Unterwäsche. Mit Medikamenten kannte sie sich aus, als Ärztin. "Das Schlimme an Depressionen ist, dass sie dir jeden Lebensmut rauben", sagt Sibylle Mark, 51, Allgemeinmedizinerin im Saarland. Da geht es nicht mehr darum, den Alltag zu gestalten. Nicht mal mehr darum, vernünftige Entscheidungen zu fällen. Es geht nur noch darum, den Tag irgendwie zu überstehen. Seit 19 Jahren lebt die dunkelhaarige zierliche Frau mit dieser Erkrankung. Seit fünf Jahren hat sie sich nicht mehr den Tod gewünscht.

Rückblende: Das erste Mal schlich sich die schwarze Trauer 1989 in Sibylle Marks Leben. Damals steckte sie in den Hochzeitsvorbereitungen. "Komisch, dass das mit solchen an sich positiven Ereignissen zusammenfiel", sagt sie und lächelt kurz dabei. Jede normale Braut freut sich auf den Tag. Ihr machte es nicht mal Spaß, ein weißes Kleid auszusuchen, geschweige denn über Sitzordnungen oder Blumenschmuck nachzudenken.

Doch gerade die Lebenslust kam ihr abhanden

Erst glaubte sie, die ständige Niedergeschlagenheit habe mit dem Schicksalsschlag zu tun, der sie wenige Jahre zuvor getroffen hatte: 1986 war ihr langjähriger Freund - die beiden wollten heiraten - an einer schweren Herzkrankheit gestorben. Ein Jahr nach seinem Tod lernte sie ihren künftigen Ehemann kennen. "Natürlich kämpfte ich damals noch mit der Trauer", erinnert sie sich. "Aber ich war jung, ich wollte leben. Plötzlich war alles möglich: Familie, wegfahren, Lebenslust."

Doch gerade die Lebenslust kam ihr abhanden. Zunächst gab es noch Tage, an denen nicht alles grau in grau erschien. Aber auch die wurden seltener. Schließlich ging sie drei Monate vor dem Hochzeitstermin zum Arzt. Der Psychiater verschrieb ihr das erste Mal Antidepressiva. Beteuerte: Höchstens sechs Monate - dann ist alles überstanden. Das war im Frühjahr 1989.

Tatsächlich ging es ihr bald besser. Sie beruhigte sich: eine Episode, nichts weiter. Vielleicht nötig, um endgültig über den Tod des Liebsten hinwegzukommen. "Nach ein paar Wochen war ich wieder die Alte", erinnert sie sich. Als sie die Tabletten absetzte, schien immer noch die Sonne. Fast acht Jahre lang.

Acht Jahre lang ein ganz normales, fröhliches, erfolgreiches Leben. An den finsteren Begleiter ihrer Seele dachte sie kaum mehr. 1991 kam ihre erste Tochter zur Welt. 1993 der Sohn. Sie arbeitete weiter halbtags als angestellte Ärztin in einer Gemeinschaftspraxis. 1996 erkrankte ihr Bruder an Leukämie. Kurz darauf war sie mit dem dritten Kind schwanger. Wieder diese Nähe von Tod und Freude. "Das hat mich sehr mitgenommen", sagt sie.

Zunächst gab es noch Tage, an denen nicht alles grau in grau erschien

Es ging wieder los: An einem Sonntag - ihr Mann war wie so oft arbeiten - stritten die Kinder. Ganz gewöhnlich, nichts Besonderes. Außer, dass Sibylle Mark dieses Mal keine Kraft mehr hatte, darauf zu reagieren. Sie legte sich aufs Sofa und weinte.

Ein neuer Schub, sie wusste es sofort. Mit einem großen Unterschied: Beim ersten Mal war sie allein. Jetzt war sie Mutter von zwei Kindern und mit dem dritten schwanger. Da muss man keine Ärztin sein, um zu wissen: Die Tabletten, die ihr vor acht Jahren das Leben gerettet hatten, kamen jetzt nicht infrage, wenn sie ihr Ungeborenes dadurch nicht gefährden wollte.

So drängte sich die Depression wieder in ihr Leben, jeden Tag ein bisschen mehr. Ein Haushalt mit vier Personen - und sie konnte nicht mal die Spülmaschine ausräumen. Zwei hungrige Kinder - und sie konnte ihnen nicht mal ein Brot schmieren. Geschweige denn Spielzeug aufräumen, vorlesen, kuscheln. Sibylle Mark fühlte sich als Versagerin, als Rabenmutter. Nicht mal auf das Baby konnte sie sich freuen. Die Depression sei "die Krankheit der Losigkeit" steht in dem Buch "Schattendasein". Denn das Leiden mache "gefühllos, hoffnungslos, schlaflos, antriebslos, hilflos".

Zwei hungrige Kinder - und sie konnte ihnen nicht mal ein Brot schmieren.

Gefühllos sei sie gewesen. Vor allem das, sagt sie und steckt sich die schwarze Gucci-Brille von der lustigen Stupsnase ins halblange dunkle Haar. Losgekoppelt von allen Emotionen, von der Lebenslust, von dem Bedürfnis, etwas für sich und andere zu tun. Bis zum letzten Drittel der Schwangerschaft ging das so. Dann musste sie sich entscheiden: Medikamente oder Untergang. Ihre Gesundheit oder die ihres Babys.

Während sie erzählt, knibbelt sie mit ihrer rechten Hand am Verschluss ihrer Uhr, macht ihn auf und wieder zu, immer wieder. Ganz niedrig dosierte der Arzt die Antidepressiva, aus Furcht, dem Ungeborenen zu schaden. Glücklicherweise kam ihre Tochter völlig gesund zur Welt. Nur stillen konnte sie sie nicht. Immerhin halfen ihr die Tabletten, wieder zu funktionieren. Doch während sie acht Jahre zuvor das Gefühl hatte, die Krankheit im Griff zu haben, beschlich sie diesmal der Eindruck: "Mir fehlt etwas Grundlegendes, etwas, das gesunde Menschen haben." Nicht mal die Tatsache, dass ihr Bruder seine Krankheit überwunden hatte, half ihr. Zwar fühlte sie sich nicht richtig krank. Aber sie war auch nicht im Lot.

Die Stimme behielt recht. Sibylle Mark merkte es sofort, als sie für einen kleinen Eingriff am Innenohr für ein paar Tage die Antidepressiva absetzen musste - sie hätten sich mit der Vollnarkose nicht vertragen. Nach der Operation lag sie wie ein Häufchen Elend im Klinikbett. Sie begann, die Pillen gegen die Trauer erneut einzunehmen. Doch auf einmal war alles anders: Plötzlich litt sie unter massiven Nebenwirkungen, extremer Mundtrockenheit, starker Verstopfung, bleierner Müdigkeit. Kein seltenes Phänomen, erklärte ihr der Arzt: Die Wirkung eines Antidepressivums kann sich jederzeit verändern, wenn man es kurzzeitig absetzt.

Zwar fühlte sie sich nicht richtig krank. Aber sie war auch nicht im Lot.

Ab jetzt ging es steil bergab. 15 verschiedene Medikamente probierte sie in den nächsten Monaten aus. Manche halfen zu wenig. Andere wirkten zwar, quälten sie aber mit Nebenwirkungen. Mit jedem weiteren Versuch schwand ihre Hoffnung, jemals wieder gesund zu werden, so wie früher. Die tiefe Schwärze umfing sie erneut, bald jeden Tag. "Natürlich war ich regelmäßig beim Psychiater", erzählt sie. Aber auch die Gespräche halfen ihr nicht.

Das Einzige, was ihrem Leben da noch Struktur gab, war die Arbeit: Halbtags schleppte sie sich in die Praxis. Dann kam der Tag, als der Psychiater sagte: "So geht es nicht weiter. Ich muss Sie krankschreiben." Er hielt sie für nicht mehr zurechnungsfähig. Schließlich trug sie Verantwortung. "Das war für mich, als wäre die letzte Bastion gefallen", sagt sie.

Daheim: die Hölle. Die Kinder, die sie überforderten. Ein Ehemann, der längst das Verständnis verloren hatte und sie zermürbt und verzweifelt mit seinen Ratschlägen überfuhr: "Reiß dich bitte zusammen. Du hast doch alles, was du brauchst." - "Ein 500-prozentiger Oberverdränger", sagt sie über ihn. Und: "Das war vermutlich seine Art, mit der Situation fertig zu werden. Mittlerweile habe ich ihm verziehen."

Die Klinik brachte die Wende

Was ihre Schwester bewog, sie schließlich in die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses zu bringen, weiß sie heute nicht mehr. Vielleicht war sie hellhörig geworden, weil Sibylle Mark laut über den Tod gesprochen hatte. Jedenfalls schickten die Ärzte dort sie zu einem längeren Aufenthalt in eine psychiatrische Klinik - mit Gruppen- und Ergotherapie, vor allem mit viel Ruhe. "Seidenmalerei auf Kosten der Steuerzahler", sagte ihr Mann zynisch dazu. 16 Wochen blieb sie dort. Am Wochenende besuchte ihr Mann sie mit den Kindern. "Für die war das nicht lustig, ständig ihre deprimierte Mutter zu sehen", sagt sie.

Die Klinik brachte die Wende. "Ich lernte Leute mit Depressionen kennen, merkte, ich war nicht die Einzige mit diesem Problem." Endlich ging es aufwärts. Zu Hause chattete sie im Internet mit anderen Betroffenen, tauschte sich über ihre Erfahrungen aus. Es war, als hätte jemand die Tür zu ihrem inneren Kerker geöffnet.

Das half ihr, ihre Krankheit zu akzeptieren, sich nicht nur als eine "Überempfindliche" zu sehen, die im Leben nicht zurechtkommt. Sie begann eine Verhaltenstherapie, lernte ihre inneren Muster kennen, die sie dazu brachten, ständig etwas zu leisten, ein "gutes Mädchen" zu sein. So brav und angepasst, dass ihr nur die Flucht in die Krankheit blieb. Schließlich lichteten sich die Schatten. Endlich hatte der Arzt ein Medikament gefunden, das ihr half. Sie ging wieder arbeiten.

Verändert hat sie ihr Leben so oder so - auch zum Guten

Die Tabletten nimmt sie bis heute. Natürlich möchte sie sie loswerden, irgendwann. Ein Mittel, das nicht nur Auswirkungen auf den Kopf hat: Abends befallen sie wahre Heißhunger-Attacken, die sie nicht kontrollieren kann. Und manchmal leidet sie unter extremen Schweißausbrüchen. Aber keine Psychopharmaka zu nehmen? Der Preis könnte viel zu hoch sein. Das klingt nach einem gedämpften Lebensgefühl, ohne große Höhen und ohne bodenlose Tiefen, vielleicht nach ein wenig Glück? "Die Frage stelle ich mir nicht", sagt sie.

Aber immerhin ist sie nicht mehr hoffnungslos. Und auch die Angst ist weg, komplett zu versagen und zu versinken, zumindest meistens. Nur manchmal macht sie ihr zu schaffen, dann, wenn sie darüber nachdenkt, wie es wird, wenn ihre Kinder das Haus verlassen oder ihre alten Eltern sterben. "Davor fürchte ich mich. Vielleicht hat sich die Depression als Reaktionsmuster auf schlimme Ereignisse schon in mir verankert", sagt sie.

Verändert hat sie ihr Leben so oder so - auch zum Guten: "Vielleicht klingt es komisch. Aber die Krankheit hat auch etwas Positives für mich. Ich werde nie mit Leichtigkeit durchs Leben gehen. Doch darin liegt für mich eine gewisse Qualität. Mein Leben hat mehr Tiefgang, weniger Oberflächlichkeit. Und das bin ich."

Nur traurig oder schon krank - wo verläuft die Grenze zur Depression?

Jeder hat mal einen schlechten Tag. Was aber, wenn das dunkle Lebensgefühl dominant wird? Die Grenze zwischen Niedergeschlagenheit und Depression ist schwer zu definieren. So ist es nach Meinung von Psychotherapeuten ganz normal, auf schwere Schicksalsschläge mit depressiven Symptomen zu reagieren, ohne dass man gleich krank ist. Grundsätzlich gilt jedoch: Dauert die gedrückte Stimmung länger als zwei Wochen, sollten Betroffene sich ernsthaft Gedanken machen.

  • Ist die Verstimmung stärker als sonst, hält sie die meiste Zeit des Tages und an fast allen Tagen an?
  • Geht das Interesse an alltäglichen Aktivitäten, die sonst grundsätzlich Spaß gemacht haben, verloren?
  • Fehlt oft sogar die Energie, das Bett zu verlassen? Werden Müdigkeit und Kraftlosigkeit zum vorherrschenden Lebensgefühl?
  • Sind Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen stark angeschlagen?
  • Nehmen grundlose Selbstvorwürfe oder ausgeprägte und völlig unangemessene Schuldgefühle überhand?
  • Fällt es schwerer als sonst, sich zu konzentrieren, sich zu erinnern oder Entscheidungen zu treffen?
  • Treten verstärkt Unruhe und Nervosität auf? Fällt es schwer, still zu sitzen? Oder umgekehrt, sich zu bewegen?
  • Gibt es Probleme beim Einschlafen? Ist der Schlaf gestört?
  • Geht der Appetit verloren, oder wird er deutlich größer?
  • Kreisen die Gedanken immer wieder um Tod oder Selbstmord?

Schon bei zwei der ersten drei Symptome oder insgesamt mindestens vier Symptomen besteht der Verdacht auf eine leichte Depression. Dann ist es ratsam, einen Arzt aufzusuchen. Bei Zustimmung der ersten drei sowie mindestens fünf weiteren Fragen, liegt eine schwere Depression vor.

Zum Weiterlesen

David Althaus, Ulrich Hegerl und Holger Reiners: "Depressiv? Zwei Fachleute und ein Betroffener beantworten die 111 wichtigsten Fragen", Kösel. Ulrich Hegerl und Svenja Niescken: "Depressionen bewältigen. Die Lebensfreude wiederfinden", Trias. Thomas Müller-Rörich u. a.: "Schattendasein. Das unverstandene Leiden Depression", Springer.

Anselm Grün: "Wege durch die Depression. Spirituelle Impulse", Herder.

Matthew Johnstone: "Mein schwarzer Hund. Wie ich meine Depressionen an die Leine legte", Kunstmann.

Mehr Infos: Das Kompetenznetz Depression versorgt Betroffene und Angehörige mit Tipps rund um das Thema, Adressen von Kliniken, Krisendiensten und Selbsthilfegruppen.

Text: Anne-Bärbel Köhle

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