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Demenzkranke pflegen: Der Fremde in meiner Wohnung

Demenzkranke pflegen: Der Fremde in meiner Wohnung
© istock/Thinkstock
Jahrzehnte haben sie zusammen verbracht - und dann ist alles anders. Angehörige, die Demenzkranke pflegen, müssen hilflos zusehen, wie sich der geliebte Mensch verändert. Selbsthilfegruppen können Trost und Unterstützung geben.

"Es ist verboten, Müll aus dem Fenster zu werfen. - Das habe ich auf Zettel geschrieben, und diese Zettel habe ich auf die Fensterscheiben und an die Balkontür geklebt. Es hat nicht lange geholfen. Irgendwann kam wieder der Nachbar und hat sich beschwert. 'Das war ich nicht', hat mein Mann gesagt, 'ich habe noch nie Müll in den Hof geworfen.' Und ich habe ihn angebrüllt, er solle das jetzt einsammeln, dann bin ich plötzlich in Tränen ausgebrochen.

Ich wusste ja, dass er nichts dafür konnte, weil er krank war, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Dann sind wir in den Hof gegangen und haben die Verpackungen von dem Speiseeis aufgesammelt, das er so gern aß, drei Familienpackungen am Tag. Er schaute mich an, ein Hüne von einem Mann, fast zwei Meter groß war er, und sagte: 'Ich will das nie wieder tun, es tut mir so leid.' Das war für mich noch viel schlimmer, als wenn er alles abgestritten hätte. Weil ich in diesem Moment seine ganze Verzweiflung spüren und sehen konnte."

Angelika Fuls, 67 Jahre, hat ihren Mann Thomas drei Jahre lang zu Hause und sechs Jahre in einem Heim betreut. Er war an Demenz erkrankt. Im Sommer 2011 ist er gestorben. Er war 65 Jahre alt.

Zwei Drittel der Demenzkranken werden von ihren Angehörigen betreut

Etwa 1,4 Millionen Demenzkranke leben in Deutschland. Jahr für Jahr kommen 300.000 dazu. Zwei Drittel werden zu Hause von ihren Angehörigen betreut. Das bedeutet, dass mindestens 800.000 Menschen sich kümmern, trösten, Hilfe organisieren und versuchen, den Betroffenen ihr oft quälend verwirrendes Leben zu erleichtern. Es sind Ehefrauen, Ehemänner, unverheiratete Partner, Töchter, Schwiegertöchter, Geschwister, Enkel, die rund um die Uhr oder aushilfsweise helfen. Aber wer hilft den Helfern?

Bei Thomas Fuls wird im Alter von 56 Jahren Alzheimer und später eine "frontotemporale Demenz" diagnostiziert, eine Form der Erkrankung, bei der sich Persönlichkeit und Sozialverhalten verändern, Betroffene aggressiv und taktlos werden. Eine Freundin rät seiner Frau, sich bei der Alzheimer-Gesellschaft zu informieren. "Das habe ich getan", sagt Angelika Fuls. "Ich habe auch von Anfang an allen erzählt, dass mein Mann eine Demenz hat. Den Kindern war das nicht immer recht, aber für mich war es leichter. Damit keiner denkt, er hat eine Macke, sondern jeder weiß, er ist krank."

Doch trotz ihrer Offenheit wissen es nicht alle. Die Polizisten nicht, die Thomas Fuls daran hindern müssen, den Verkehr auf einer viel befahrenen Kreuzung zu regeln. Auch der Kaufhausdetektiv nicht, der ihn erwischt, als er Druckerpatronen einsteckt. Der Detektiv hält ihn fest, um auf die Polizei zu warten. "Wenn man Alzheimer-Patienten gegen ihren Willen anfasst, fühlen sie sich so bedroht, dass sie um sich schlagen", sagt Angelika Fuls. "Ich bin sicher, dass mein großer Mann den Detektiv ein paarmal getroffen hat. Also hat ihn der Detektiv mit Handschellen an einen Stuhl gekettet. Als ich kam, um ihn abzuholen, hatte Thomas vergessen, was geschehen war." Angelika Fuls erfährt es erst beim Prozess von seinem Verteidiger. Nach einem psychiatrischen Gutachten wird er freigesprochen, er hätte nicht mehr verstanden, dass er Unrecht getan hätte, heißt es. "Dann kann ich ja jetzt ohne Ticket U-Bahn fahren, ich bin doch schuldunfähig", sagt Thomas Fuls anschließend.

Viele finden Antworten in einer Selbsthilfegruppe

Angelika Fuls lacht. Wenn die Ereignisse vorbei sind, kann man sie als Anekdoten erzählen, man ist erleichtert, dass der Druck vorübergehend weg ist, man will für den Moment die Hoffnungslosigkeit vergessen, die Verzweiflung auch. Und natürlich ist eine Welt, in der die Regeln der Vernunft und der Normalität nicht mehr gelten, manchmal auch komisch. Nur wenn man mittendrin ist, hält man es oft einfach nicht mehr aus. Was wird als Nächstes passieren? Wie kann ich mit einem Menschen leben, der mir immer fremder wird? Wie kann ich ihn vor seinen eigenen Handlungen beschützen? Und wie mir selbst trotz alledem ein bisschen Normalität und Leichtigkeit in meinem Leben bewahren? Leichtigkeit - wie weltfremd ist das denn? Das alles fragt Angelika Fuls sich. Antworten findet sie in einer Selbsthilfegruppe.

Zweimal im Monat treffen sich in Berlin-Charlottenburg Angehörige von Demenzerkrankten. Der Raum ist nüchtern, es gibt keinen Kaffee, keine Kekse. Es ist nicht gemütlich, aber es tut gut. Manchmal kommen acht Leute, manchmal nur zwei. Wer reden will, hat hier die Gelegenheit dazu, wer lieber nur zuhören will, auch. Christa Matter, Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft Berlin e.V. und Diplom-Psychologin, moderiert die Gruppe seit 17 Jahren. Es werden keine Themen für die Gespräche vorgegeben, es wird auch nicht bewertet, was richtig oder falsch ist.

In der Gruppe sind Menschen, die alle einen Angehörigen pflegen, den Partner oder die Partnerin, die Mutter, die Schwiegermutter, den Vater, den Onkel oder die Großmutter. Und alle haben ähnliche Fragen wie Angelika Fuls: Darf man einen erwachsenen Menschen einsperren, weil man Angst hat, er läuft weg, wenn man kurz einkaufen geht? Was sagt man zu dem Ehemann, der im Heim erzählt, dass seine vier Kinder nicht von ihm sind und die Frau, die ihn täglich besucht, eine Schlampe ist? Ist es nicht respektlos, der verwirrten Mutter nach der gefühlt dreitausendsten Frage, wann der Enkel kommt, nicht mehr zu antworten? Angelika Fuls erinnert sich, dass sie ewig mit einem schlechten Gewissen gelebt hat. Erst in der Gruppe hat sie erfahren, dass es allen so geht. Das hat ihr sehr geholfen.

"Hier kann ich endlich auch die ambivalenten Gefühle aussprechen, und niemand macht mir Vorwürfe. Das ist sehr entlastend", sagt Jörg Müller. Er, 55 Jahre, und seine Frau Christiane Schulz, 56 Jahre, sind drei Jahre lang in die Gruppe gegangen. Zusammen haben sie die Mutter von Christiane Schulz betreut, zuerst in deren Wohnung, dann im Heim. Die beiden haben von Anfang an alles gemeinsam gemacht. Sie hatten aber auch schon Erfahrung mit Pflege, weil sie den krebskranken Vater von Christiane Schulz bis zum Tod begleitet hatten. "Bei meiner Schwiegermutter konnte ich mit manchen Wunderlichkeiten etwas besser umgehen", sagt Jörg Müller. "Wenn ich gesagt habe, wir wechseln jetzt die Hose, dann ging das. Hat meine Frau das gesagt, gab es Geschrei und Widerstand. Die Nähe zwischen Mutter und Tochter machte wohl manches problematischer." Und manches trauriger.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist groß

Christiane Schulz erinnert sich, wie ihre Mutter in ihrem letzten Lebensjahr Schreianfälle bekam. "Einmal hat sie gesagt: 'Ich will nicht, dass es schreit, es schreit ganz von allein.' Das hat mir so weh getan für sie. Man sagt ja oft, Demenzkranke kriegen nicht mit, was mit ihnen ist. Nach meinen Erfahrungen glaube ich das nicht."

Das Ehepaar Müller-Schulz und Angelika Fuls haben sich vor zehn Jahren in der Gruppe kennen gelernt und angefreundet. Obwohl ihre Angehörigen inzwischen gestorben sind, treffen sie sich bis heute privat weiter, zum Essen oder auf ein Glas Wein. Jörg Müller ist nach dem Tod der Schwiegermutter nicht mehr in die Gruppe gegangen, er brauchte Abstand. Christiane Schulz hat die Treffen noch eine Zeit lang besucht.

"Monatelang hört man von den Sorgen der anderen. Obwohl man deren Angehörige gar nicht oder nur von einem Foto kennt, ist man doch berührt, wenn einer ins Heim kommt oder stirbt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist groß." Angelika Fuls ist jetzt sogar erste Vorsitzende der Alzheimer-Gesellschaft Berlin e. V.

Viele fürchten die Reaktionen, wenn der Kranke im Park laut im Hilfe ruft

Das Thema Demenz wird heute weniger tabuisiert. Es spielt in Filmen und Büchern eine Rolle, Zeitschriften klären darüber auf. Aber immer noch schämen sich viele, mit ihren Angehörigen in die Öffentlichkeit zu gehen. Sie fürchten die Reaktionen, wenn der Kranke im Park laut um Hilfe ruft oder wenn er im Restaurant nach dem Essen ungeniert das Gebiss herausnimmt. Nicht jeder kann offensiv mit solchen Situationen umgehen. Für alle, die ihren Mann, ihren Lebenspartner, ihre Mutter und sich selbst nicht verstecken wollen, hat die Alzheimer-Gesellschaft Berlin e. V. eine kleine Karte gedruckt: "Ich bitte um Verständnis. Mein Angehöriger ist dement (verwirrt) und verhält sich deshalb ungewöhnlich."

Monika Berger (Name von der Redaktion geändert), 58 Jahre, hat lange überlegt, ob sie sich einer solchen Selbsthilfegruppe anschließen soll. Ihre Lebensgefährtin S., 70 Jahre, hat die Diagnose Alzheimer-Demenz vor knapp eineinhalb Jahren bekommen, verwirrt war sie schon länger. "Wir waren im Urlaub, alles war gut, da sagte S. plötzlich, sie müsse jetzt wieder nach Hause fahren, die Monika warte auf sie. Ich antwortete, dass ich doch hier sei. Aber S. schaute mich an und sagte, nein, sie meine die andere Monika. Ich habe dann unbeobachtet auf meinem Handy mit S. telefoniert und ihr gesagt, sie solle ruhig noch im Urlaub bleiben. Und S. hat mir erzählt, dass die andere Monika ihr die Erlaubnis für den Urlaub gegeben habe."

Dass sie Unterstützung für den weiten Weg mit der Krankheit ihrer Freundin brauchen wird, weiß Monika Berger inzwischen. Aber will sie schon heute wissen, was noch alles auf sie zukommen wird? Deprimieren solche Geschichten nicht eher? Und möchte sie wirklich mit Unbekannten über Privates, Intimes reden? Daran gewöhnt ist sie nicht.

Beim ersten Besuch in der Gruppe hört Monika Berger nur zu. Tipps und Informationen werden ausgetauscht: Wer kennt dieses Medikament? Wer weiß, wie man eine Tagespflege organisiert? Was kann man tun, wenn der Medizinische Dienst die Pflegestufe und damit die finanzielle Unterstützung ablehnt? Eine Angehörige erzählt über ein neues Heim, das wird sie noch lange nicht brauchen, hofft Monika Berger.

Der zweite Besuch überfordert sie, weil eine Frau vom Sterben ihres Mannes erzählt. Sie schluckt, sie will sich das nicht vorstellen. Drei Monate bleibt Monika Berger den Treffen fern. Das ist ein Jahr her. Seitdem geht sie fast regelmäßig in die Gruppe. "Ein wunderbarer Nebeneffekt ist: Ich kann jetzt mit Freunden viel entspannter ins Kino gehen oder in ein Café", sagt Monika Berger. "Ich stehe nicht mehr unter dem inneren Druck, ständig über meine Sorgen reden zu wollen. Die kann ich alle in der Gruppe loswerden."

Text: Regina KramerBRIGITTE woman 02/2014

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