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Wenn Angst zur Krankheit wird: Eine Frau erzählt

Viele Jahre hat sich Hanna perfekt unter Kontrolle, arbeitet als Führungskraft, trifft schnelle Entscheidungen. Dann werfen sie Panikattacken aus der Bahn. Und sie erkennt, dass die Angst für sie zur Krankheit geworden ist.

Hanna Stefan steht im Wald, dort, wo man kein Haus, keinen Weg mehr sieht, sie soll sich drehen, bis ihr schwindelig wird, und über ihr eigenes Sterben sprechen. Die Frau an ihrer Seite liest ihr etwas aus einer Zeitung vor, einen Artikel über den plötzlichen Herztod. "Es kann sein, dass Sie jetzt einen Herzinfarkt bekommen", sagt die Frau. Dann geht sie.

Sie geht und lässt Hanna Stefan in diesem Wald zurück, ganz allein, ohne Hilfe, ohne Handy. Aber mit diesen schweißnassen Händen, dem hämmernden Puls, der Wucht der anflutenden Panik. Lange steht sie dort unter den Bäumen und weiß einfach, dass ihr Leben jetzt und hier endet.

Drei Monate später erzählt Hanna Stefan in einem Konferenzraum von diesem Tag, der Teil ihrer Therapie war. Und ihr größter Erfolg, sagt sie. "Ich musste ins kalte Wasser geworfen werden." Denn als ihr Herz nicht mehr so sehr raste und sie durch den Wald zur Klink zurückging, hatte sie eine elementare Erkenntnis gewonnen: dass ihr nichts geschieht, dass sie es aushalten kann, auch wenn ihr Körper höchsten Alarm schlägt. "Exposition" nennen die Ärzte das; sie meinen damit, sich unter therapeutischer Begleitung dem auszusetzen, was man fürchtet. "Eine hochwirksame Methode bei einer Panikstörung", sagt Universitätsdozent Dr. Gernot Langs, Chefarzt der Schön-Klinik Bad Bramstedt, die auf Angsterkrankungen spezialisiert ist.

Im Beruf ist sie nicht die Frau mit den Panikattacken - sondern ehrgeizig, erfolgreich, perfektionistisch.

Hanna Stefan ist nicht ihr wirklicher Name. Aber sie möchte vermeiden, dass ihr Arbeitgeber erfährt, wie es um sie steht. Denn in ihrem Berufsleben ist Hanna Stefan nicht die Frau mit den Panikattacken, keineswegs. Sondern erfolgreich, ehrgeizig, perfektionistisch. Die 40-Jährige mit dunklen Haaren, wachen braunen Augen und einem feinen Lächeln arbeitet in einer Führungsposition in der Finanzbranche, trägt Verantwortung für den Umsatz. "Ich treffe Entscheidungen, ohne mich zu fürchten, dass sie falsch sein könnten", sagt sie. "Ich führe Einstellungsgespräche, entlasse Mitarbeiter." Sie ist viel unterwegs, im Zug, im Auto, 130 Kilometer sind es allein von der Stadt, in der sie arbeitet, bis zu dem kleinen Ort, in dem sie mit ihrem Mann lebt. Ist sie mal früher zu Hause, sitzt sie noch ein paar Stunden am Schreibtisch. Stress gehört zu ihrem Alltag. Seit Jahren.

Hanna Stefan war ein schüchternes Kind in einer übervorsichtigen, ängstlichen Familie, hatte häufig Sorge, dass den Eltern etwas passieren könnte. Als sie kurz vor dem Abitur stand, wurde beim Vater ein Herzleiden festgestellt. Etwa zur gleichen Zeit fand die Familie heraus, dass der früh verstorbene Großvater, den der Vater nicht gekannt hatte, einem Herzinfarkt erlegen war. Die Eltern drängten die Tochter, auch zum Kardiologen zu gehen. Er diagnostizierte Extrasystolen, zusätzliche Herzschläge neben dem normalen Herzrhythmus, ein harmloses Phänomen, das nicht behandelt werden muss. Wenn sie an diese Zeit denkt, erinnert sie sich, dass es ihr nicht gutging, dass sie häufig Angst hatte. Zum Beispiel Angst, beim Autofahren eine Herzattacke zu erleiden.

Die Angst treibt sie, wie viele erfolgreiche Menschen, voran.

Hanna Stefan macht Karriere, erreicht die erste Führungsposition, als sie noch keine 30 ist. Sie will ihren eigenen Ansprüchen genügen. Die Ängstlichkeit steht ihr dabei nicht im Weg. Im Gegenteil. Die Angst treibt sie, wie viele erfolgreiche Menschen, voran, verleiht ihr ein besonders empfindsames Gespür für sich selbst und für das, was andere von ihr erwarten.

Es gibt kaum Situationen, die sie nicht bewältigt. "Ich will nur immer alles in der Hand haben", sagt sie. "Ich muss die Kontrolle behalten." Im Kino setzt sie sich stets an den Rand, damit sie jederzeit hinausgehen kann; sie fährt Fahrstuhl, nur nicht in einem engen; sie fliegt auch, wenn es nicht gerade Fernflüge sind, und erfindet etwas, damit sie einen Platz am Notausgang bekommt. Wenn sie im Stau steckt oder in vollen Räumen steht, zählt sie ihre Atemzüge, um sich zu beruhigen.

Sie muss immer etwas zu tun haben. Sonst kommt sie schnell ins Grübeln - über die Arbeit, die Finanzen, die Zukunft, "über alles, worüber man sich Sorgen machen kann". Im Auto telefoniert sie die meiste Zeit, im Zug arbeitet sie am Laptop. Nur am Abend, wenn sie nicht einschlafen kann, oder nachts, wenn sie immer mal wieder wach liegt, lassen sich die Gedanken nicht verscheuchen und ziehen in Endlosschleifen durch ihren Kopf.

Sorgen macht ihr vor allem ihre Gesundheit. Wenn sie etwas entdeckt hat, ein dunkles Muttermal, geschwollene Lymphknoten, nimmt sie sofort das Schlimmste an, etwa Krebs. "Das bringt mich aus der Fassung, ich steigere mich völlig in diesen Gedanken hinein." Sie fürchtet nicht, sich irgendwo mit einer Erkältung anzustecken. Sie hat Angst vor multipler Sklerose, einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt.

Etwa alle vier Wochen geht sie zum Arzt. Meist findet sie einen Weg, um schnell einen Termin zu bekommen. Sie müsse ins Ausland, sagt sie, daher sei es dringend. Ist alles in Ordnung, beruhigt sie sich. Doch nach kurzer Zeit verliert sie diese Sicherheit wieder: Vielleicht hat der Arzt sie nur nicht gründlich genug untersucht. Das Internet kann ihre Sorgen nicht beschwichtigen. Manchmal verbietet sie es sich, überhaupt dort zu suchen. Sendungen über Krankheiten schaltet sie weg, besonders wenn sie angespannt ist. "Sonst spüre ich sofort die gleichen Symptome und denke, ich habe das doch auch." Im vergangenen Jahr erleiden zwei Bekannte, beide etwa in ihrem Alter, einen Herzstillstand und müssen wiederbelebt werden. Als sie davon erfährt, bekommt sie sofort Angst.

Ihr Mann bleibt gelassen, er springt nicht auf diese Ängste an. "Das gehört zu dir", sagt er. Sie selbst findet ihr Verhalten nicht schlimm, nicht krankhaft jedenfalls. "Viele Menschen leben mit ihren Ängsten und kommen gar nicht auf die Idee, dass sie gut behandelbar wären", sagt der Facharzt für Psychosomatische Medizin Gernot Langs. Oft erlebten die Patienten durch ihre Ängste jedoch eine kontinuierliche Einschränkung in ihrem Leben. "Irgendwann kommt der Punkt, an dem nichts mehr geht."

Der Notarzt äußert den Verdacht auf Vorhofflimmern. Das Wort hakt sich in ihr fest.

Bei Hanna Stefan ist es an einem Freitag im April so weit. Sie arbeitet zu Hause, ist allein. Sie telefoniert beruflich, als plötzlich ihr Herz aus- und wie mit einem Paukenschlag wieder einsetzt. Sie spürt, wie es rast. Mitten im Gespräch legt sie auf, läuft zur Nachbarin, die einen Krankenwagen ruft. Der Notarzt äußert den Verdacht auf Vorhofflimmern. Das Wort hakt sich in ihr fest.

Im Krankenhaus wird sie gründlich untersucht, wieder diagnostizieren die Ärzte die Extrasystolen, einen Befund ohne Krankheitswert, heißt es; weiter finden sie nichts. Hanna Stefan ist erleichtert. Und doch setzt die Furcht ein, dass ihr das noch einmal passieren könnte. Sie sagt eine Verabredung mit Freundinnen ab, eine wichtige Tagung muss ein Kollege leiten. Zwei Wochen nimmt sie sich eine Auszeit. Sie mag nicht ins Auto steigen, hat Angst, ihr Herz könnte jederzeit erneut Probleme bereiten.

Dann holt der Stress sie ein. Eine Auseinandersetzung mit ihrem Vorgesetzten erhöht ihre Anspannung noch. Die nächste Attacke erwischt sie zwei Wochen später in einem Hotel in Nürnberg, ihr Herz stolpert, Panik erfasst sie. Im Taxi fährt sie zur Klinik.

Sie beobachtet ständig, ob ihre Nachbarin da ist - für den Notfall.

Die Anfälle kommen wieder. Und wieder. Eines Abends überfällt sie die Attacke zu Hause, ihr Mann weigert sich, sie noch einmal in die Klinik zu bringen, und erschrickt, als sie selbst losfährt. 20 Kilometer legt sie im Auto zurück, völlig aufgelöst, mit schwitzigen Händen, weichen Knien und einem Druck auf dem Kopf. Mit Todesangst. In drei Monaten erscheint sie so viermal im selben Krankenhaus. Beim letzten Mal legt der Kardiologe ihr nahe, auch mit einem Psychotherapeuten zu sprechen. Da weiß sie es schon selbst: "Ich brauchte Hilfe. Ich kam allein nicht mehr raus aus meiner Angst."

Sie habe Herzprobleme, sagt sie ihrem Chef. Sie lässt sich krankschreiben - vier Monate wird sie ausfallen. In den ersten Wochen igelt sie sich zu Hause ein; wenn sie spazieren geht, dann nur in der Nähe des Krankenhauses. Sie beobachtet ständig, ob ihre Nachbarin da ist, damit sie im Notfall jemanden erreichen kann. Eine Therapeutin rät ihr schließlich zu einem Klinikaufenthalt. Kurz darauf bietet sich ihr ein Behandlungsplatz. Hätte sie keine Hilfe bekommen, da ist sich Hanna Stefan sicher, wäre sie in eine Depression geglitten, so wie viele andere Angstpatienten.

In ihrem Krankenhauszimmer stellt sie ein Flipchart mit ihren Zielen auf.

Für sie, die Erfolgreiche, ist es schwer, sich einzugestehen, dass ihr Leben nicht mehr funktioniert. Doch sie geht die Therapie auf ihre Weise an: mit Ehrgeiz. In ihrem Krankenhauszimmer stellt sie ein Flipchart mit ihren Zielen auf. Sie schreibt auf: Ich spreche mit meinem Arbeitgeber. Ich brauche keine Verantwortung. Ich will Zufriedenheit. Von Anfang an weigert sie sich, Medikamente zu nehmen. "Ich wollte das so in den Griff bekommen."

Die Ärzte diagnostizieren eine generalisierte Angststörung und eine Panikstörung mit Hypochondrie, übertriebener Krankheitsangst. In diesen Wochen im Krankenhaus lernt Hanna Stefan viel über sich. Dass die Angst nicht durch Gefahren entsteht, sondern durch ihr Denken.

Sie lernt, ihre Gedanken zu hinterfragen, sie bis zum Ende zu denken und sich das Schlimmste wirklich vorzustellen. Nach der während der Therapie provozierten Panikattacke im Wald geht sie häufig allein dort joggen, das hätte sie vorher nie gewagt, heimlich nimmt sie wenigstens das Handy mit. Sie lacht viel mit den anderen Patienten, auch über sich selbst. Sie arbeitet hart an sich.

Ihre Krankheitspanik hat tiefere Ängste überlagert: Angst vor dem Tod, vor Verlust.

Hanna Stefan erkennt, dass ihre Krankheitspanik tiefere Ängste überlagert hat. Angst vor dem Tod, vor Verlust. Angst, ihre Existenz zu verlieren, die Kontrolle über sich selbst. Und die Ängste, erkennt sie, haben sie abgelenkt von Themen, mit denen sie sich ungern beschäftigt. Zum Beispiel, ob sie so leben will wie jetzt. Sie mag die Vorstellung von sich als Hauptdarstellerin auf ihrer Lebensbühne. Aber sie fragt sich auch: Was muss ich eigentlich beweisen?

Seit einigen Monaten ist Hanna Stefan jetzt zurück im Alltag, sie arbeitet wieder, ist eingespannt. Ihr Herz stolpert, wenn sie unter Druck gerät, wenn ihr Chef brüllt, aber sie weiß, wie sie damit umgehen kann. Sie ist kein anderer Mensch geworden, ihre Grundpersönlichkeit kann sie nicht ändern, sie hat die Angst jedoch besser im Griff. Sie hat gelernt: Wenn sie im Stress ist, kommt die Angst umso schneller. Deshalb achtet sie gewissenhaft jeden Tag auf Sport und Entspannung. Sie will bald weniger pendeln, öfter von zu Hause aus arbeiten.

Noch geht sie alle paar Wochen zu einem Therapeuten. Einmal beauftragt er sie, Dinge aufzuschreiben, die sie schon immer machen wollte. "Es war erschreckend, wie schwer mir das gefallen ist." Mit ihrem Mann bucht sie schließlich im Urlaub einmal kein Hotel; sie leihen einen Wohnwagen aus und fahren ein paar Tage in den Harz. Es wird ein großer Spaß.

Ein Satz ist bei Hanna Stefan haften geblieben, sie hat ihn irgendwo gelesen, er berührt sie noch immer sehr: "Die Angst hindert mich nicht am Sterben, aber am Leben." So weit möchte sie es nie mehr kommen lassen.

Text: Natalie Rösner BRIGITTE WOMAN 03/2014

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