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Ärztlicher Behandlungsfehler: Viel zu lange stillgehalten

Wenn Ärzte Fehler machen, leiden die Patienten. Eine der Betroffenen ist Carola Samow. Ein ärztlicher Behandlungsfehler ist Schuld daran, dass sie mehr als zwei Jahre Schmerzen ertragen musste.
Ärztlicher Behandlungsfehler: Viel zu lange stillgehalten
© contrastwerkstatt/Fotolia.com

Carola Samow stand vor dem Spiegel und ruckelte und schob, drückte und zerrte. Sie versuchte, die Prothese aus dem Mund zu bekommen. Aber nichts rührte sich. Der Zahnersatz saß fest wie angewachsen. An sich wäre das gut gewesen, wenn sie die Prothese nicht hätte regelmäßig reinigen müssen. Sie mühte sich, bis ihr die Finger weh taten. Dann griff sie zum Telefon und rief ihren Arzt an. "Probieren Sie es doch mal mit einem Taschentuch", riet er ihr. Als das auch nicht half, ging sie in die Praxis. Mit einem Hämmerchen klopfte der Zahnarzt die Prothese schließlich los.

Vielleicht hätte sie damals schon handeln sollen: Denn eigentlich war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass die neuen Zähne, auf die sie sich so gefreut hatte, einfach nicht passten. Doch Carola Samow, 55, hatte großes Vertrauen in ihren Zahnarzt. Er war jung und dynamisch, die Praxis modern und mit den neuesten Geräten ausgestattet. Außerdem entsprach Dranbleiben eher ihrer Persönlichkeitsstruktur: Sie packt die Dinge an und lässt nicht locker. So glaubte sie, das Problem mit den Zähnen würde sich schon irgendwie lösen. Aber nichts löste sich. 31-mal ging sie zur Nachbehandlung zu ihrem Zahnarzt, bis ihr der Kragen platzte, ein halbes Jahr ertrug sie Schmerzen, bevor sie sich Beistand holte. Dann verklagte Carola Samow ihren Zahnarzt.

Das neue Patientenrechtegesetz soll für mehr Transparenz und Rechtssicherheit bei medizinischen Behandlungen sorgen. Erstmals wird damit die Vertragsbeziehung zwischen dem Patienten und seinem Arzt, Heilpraktiker, der Hebamme und dem Physiotherapeuten in einem Gesetz geregelt. Bislang urteilten die Gerichte bei Arzthaftungsfällen auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Das sagt ganz allgemein: "Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet." Mit dem neuen Gesetz bekommt das Arzthaftungsrecht gesonderte Paragrafen. Inhaltlich wird sich aber wenig ändern.

Dr. Britta Konradt hat sich als Anwältin auf Arzthaftungsrecht spezialisiert, sie hat früher selbst als Ärztin gearbeitet und bringt Fachwissen aus Medizin und Jura ein. Immer häufiger hat sie dabei mit Zahnproblemen zu tun. Seit viele Patienten selbst große Summen in Behandlungen und Zahnersatz investieren, sinkt ihre Bereitschaft, alles hinzunehmen. "Die Zähne liegen zu dicht bei den Hirnnerven", sagt Britta Konradt. Schlägt die Behandlung fehl, sind die Schmerzen oft kaum erträglich. Auf juristischem Weg hier Ansprüche geltend zu machen, muss man sich dennoch gut überlegen. "Der Patient trägt das Beweisstück im Mund", sagt Britta Konradt. Solange das Verfahren läuft, kann er sich keiner Behandlung unterziehen. Wie sonst sollte ein Gutachter prüfen, ob der Zahnarzt oder der Kieferchirurg tatsächlich einen Fehler gemacht hat?

Der Patient trägt das Beweisstück im Mund

Als Carola Samow zum ersten Mal in Britta Konradts Kanzlei kam, hatte sie die Nase gehörig voll. Nach der 31. Nachbesserung war sie zu ihrer Krankenkasse gegangen, um die Behandlung prüfen zu lassen. Die gesetzlichen Kassen bieten ihren Patienten das auch im eigenen Interesse an. Denn ein Behandlungsfehler verursacht häufig immense Folgekosten; gelingt es, den Fehler zu beweisen, muss der Arzt dafür haften. Der Medizinische Dienst vermittelte Carola Samow eine Gutachterin, die sich die Zähne ansah. Sie fand klare Worte: Mit den Prothesen könne die Patientin nicht kauen, schrieb sie in ihrem Bericht, die Zähne würden bei heißen und kalten Speisen und Getränken schmerzen, die Prothesen säßen extrem fest und hätten scharfe Kanten. Kurz: Sie würden vorn und hinten nicht passen.

Carola Samow tat es gut, Bestätigung zu bekommen. Wie hatte sie in den Wochen und Monaten davor gelitten. Einmal, es war im kalten Winter 2009, saß sie an der Bushaltestelle und atmete ein. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Kopf. Die eisige Luft hatte einen Zahn gestreift und den Nerv gereizt. Sie saß nur noch da und heulte. Später lernte sie, den Mund bei Kälte geschlossen zu halten und einen dicken Schal darum zu wickeln, das half. So, wie sie lernte, den Kaffee erst kalt werden zu lassen und Salat ein wenig anzuwärmen. Auf saures Obst verzichtete sie bald ganz, denn wenn sie hineinbiss, fühlte sich das an, als würde sie auf einem Stück Alufolie kauen. Grässlich. Doch jedes Mal, wenn sie ihrem Zahnarzt davon erzählte, sagte der nur unwirsch, sie stelle sich an. Zu einem anderen Zahnarzt zu gehen kam für sie trotzdem lange nicht infrage. Sie hatte gut 2500 Euro in die Behandlung investiert, für die gelernte Lohnbuchhalterin viel Geld. Dafür wollte sie ein gutes Ergebnis haben. Doch der Zahnarzt war nicht bereit, eine neue Prothese anzufertigen. Stattdessen signalisierte er ihr, die Schmerzen seien psychisch. "Bei Ihnen hilft sowieso keine Zahnmedizin mehr", sagte er eines Tages. "Da bin ich sauer geworden", sagt Carola Samow.

Das war der Tag, an dem sie sich juristischen Beistand holte. Um Ansprüche nach dem Arzthaftungsrecht geltend zu machen, muss der Patient - oder dessen Anwalt - im Regelfall drei Dinge beweisen: erstens, dass ein Behandlungsfehler vorliegt; zweitens, dass ein Schaden entstanden ist; und drittens, dass beides ursächlich zusammenhängt. Dass die Beweislast beim Patienten liegt, macht es oft schwierig. In Carola Samows Fall war von Vorteil, dass bereits ein Gutachten erstellt worden war.

Das erleichterte der Anwältin ihre Arbeit. Britta Konradt verfasste ein Anspruchsschreiben. Aber die Haftpflichtversicherung des Zahnarztes wies den Anspruch auf Schmerzensgeld zurück. Eine außergerichtliche Einigung war so nicht möglich. Deshalb reichte die Juristin für ihre Mandantin Klage beim Gericht ein. Es folgte eine unerfreuliche Schlammschlacht. Der Anwalt des Arztes ließ wissen: Die Patientin würde rauchen. Sie würde trinken. Sie sei selbst schuld, wenn ihr alles weh tun würde. Solche Vorwürfe werden häufig gemacht; sie dienen dazu, den Patienten in ein schlechtes Licht zu rücken und ihm zumindest einen Teil der Schuld zuzuweisen. Doch im Fall von Carola Samow kam der Zahnarzt damit nicht durch.

Das Gericht gab ein Sachverständigengutachten in Auftrag. Wieder beugte sich ein Experte über Carola Samow und sah ihr in den Mund. Und wieder schüttelte er mit dem Kopf und gab ihr recht. Als der Fall vor dem Landgericht verhandelt wurde, einigten sich die Parteien auf einen Vergleich. Wäre das nicht geschehen, hätte das Gericht ein Urteil gesprochen. Der Zahnarzt hätte Berufung einlegen und das Verfahren in die zweite und vielleicht sogar in die dritte Instanz bringen können. Die ganze Zeit hätte die Prothese im Mund bleiben müssen, weil sie das Beweisstück war. Und die Schmerzen wären geblieben.

Das neue Patientenrechtegesetz wird an diesem Problem nichts ändern: Auch danach bleibt die Beweislast in den meisten Fällen beim Patienten. Sie kehrt sich nur um, wenn der Patient nachweisen kann, dass der Arzt einen "groben Behandlungsfehler" gemacht hat - also einen Fehler, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Die Beweislast kehrt sich nach dem neuen Gesetz ebenfalls um, wenn ein Anfänger einen Eingriff durchgeführt hat. Dann muss der Anfänger nachweisen, dass der Schaden auch entstanden wäre, wenn er kein Anfänger mehr wäre. Aber wie man es dreht und wendet: Wenn ein Patient mit Zahnersatz unzufrieden ist, also das Beweisstück im Mund hat, muss er mit der erneuten Behandlung warten, bis nachgewiesen ist, dass der Zahnarzt bei der Anfertigung der Prothese einen Fehler gemacht hat. Wenn es nicht gelingt, sich außergerichtlich zu einigen, kann das lange dauern. Denn der Beweis kann definitiv nur in einem gerichtlichen Verfahren mit einem Gutachter geführt werden, auf dessen Grundlage dann ein Urteil ergeht.

Für Carola Samow ist jetzt, gut zwei Jahre nach ihrem ersten Termin bei ihrer Anwältin, das Verfahren abgeschlossen. Erfolgreich. In der Kanzlei kann sie einen Zettel mit ihrer Kontonummer über den Tisch schieben. "Ein paar Tage noch, dann kommt das Geld aus dem Vergleich", sagt Britta Konradt. Endlich kann Carola Samow sich bei ihrer neuen Zahnärztin neue dritte Zähne machen lassen.

Wer sich schlecht behandelt fühlt, sollte sich wehren

Behandlungsfehler sind keine Seltenheit. Das zeigen regelmäßig Gutachten des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDK). Wie Patienten sich dagegen wehren können, sagt Dr. Britta Konradt, Ärztin und Fachanwältin für Medizinrecht aus Berlin.

BRIGITTE-woman.de: Lassen sich Behandlungsfehler vermeiden?

Dr. Britta Konradt: Ganz vermeiden lassen sich Behandlungsfehler nicht. Kein Arzt, keine Ärztin macht absichtlich Fehler. Aber sie passieren, und oft haben dann kleine Ursachen eine große Wirkung. Da kann es um Leben und Tod gehen. Wer das Gefühl hat, dass etwas nicht so läuft, wie es sollte, sollte deshalb seinen Arzt oder seine Ärztin frühzeitig darauf ansprechen. Am besten versucht man, gemeinsam zu klären, ob es sich um eine schicksalhaft hinzunehmende bekannte Komplikation handelt oder um einen Behandlungsfehler.

BRIGITTE-woman.de: Müssen Patienten, wenn sie juristisch gegen ihren Arzt vorgehen wollen, sich immer auf langwierige Verfahren einstellen?

Dr. Britta Konradt: Nein, oft gelingt es mithilfe eines Anwalts, schnell zu einer außergerichtlichen Lösung zu kommen. Wenn das nicht der Fall ist und wir vor Gericht verhandeln müssen, dauert es oft Jahre, bis das Verfahren abgeschlossen ist. Man kann beim Gericht ein Verfahren zur Beweissicherung beantragen. Das ist deutlich kürzer als das gesamte Verfahren, aber es dauert in der Regel immer noch sechs Monate. Für jemanden, der Zahnschmerzen hat, ist jeder Tag eine Qual. Der einzige Weg, Betroffene zu erlösen, ist, schnell zu einer außergerichtlichen Lösung zu kommen.

BRIGITTE-woman.de: Raten Sie Ihren Mandanten in jedem Fall zum Verfahren?

Dr. Britta Konradt: Nein, das muss jeder für sich selbst prüfen und ganz persönlich entscheiden. Manchmal sind die Belastungen, die durch so ein Verfahren entstehen, größer als der Nutzen. Wer sich über Monate oder sogar Jahre die Zähne nicht richten lassen kann und dadurch Schmerzen hat, zahlt für das Verfahren einen hohen Preis. Und manchmal ist allein die Tatsache, über eine lange Zeit mit dem, was geschehen ist, nicht abschließen zu können, sehr belastend.

BRIGITTE-woman.de: Wie können die Krankenkassen bei Behandlungsfehlern behilflich sein?

Dr. Britta Konradt: Wer bei einer gesetzlichen Krankenkassen versichert ist, kann dort über den Medizinischen Dienst den Behandlungsverlauf überprüfen lassen. Es wird ein Gutachten erstellt, und damit gelingt es in vielen Fällen, sich außergerichtlich zu einigen. Das kürzt das Verfahren deutlich ab - das Gutachten liegt meist schon nach sechs Monaten vor. Auch bei den Schlichtungsstellen, die die Ärztekammern eingerichtet haben, können Patienten die Behandlung überprüfen lassen. Der Arzt nimmt zum Verlauf Stellung, und ein Gutachter überprüft die Behandlung. Danach berät die Schlichtungsstelle, in der Mediziner und Juristen sitzen, über den Fall. So ein Verfahren dauert im Schnitt zwölf bis 18 Monate.

BRIGITTE-woman.de: Ihr persönlicher Tipp?

Dr. Britta Konradt: Wer das Gefühl hat, falsch behandelt worden zu sein, sollte etwas unternehmen. Dieser Schritt befreit von dem Gefühl, abhängig und ausgeliefert zu sein. Er macht Patienten zu einem mündigen Gegenüber des Arztes und zu dessen Partner. Arzt und Patient haben ein gemeinsames Anliegen, sie wollen die Krankheit heilen, den Patienten von seinen Beschwerden befreien oder diese zumindest lindern. Nur gemeinsam können sie es schaffen. Wenn einer auf diesem Weg einen Fehler macht, muss man darüber reden und den Schaden ausgleichen. Man darf nicht so tun, als wäre nichts geschehen.

Gut zu wissen

Mehr Infos zum Patientenrechtegesetz unter www.bmg.bund.de/praevention/patientenrechte/behandlungsfehler.html. Beratung für Patienten bieten viele Verbraucherzentralen an. Rat gibt auch die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD) unter Tel. 08 00/011 77 22 (Mo. bis Fr. 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr) und www.unabhaengigepatientenberatung.de; die UPD selbst darf Patienten nicht anwaltlich vertreten, sie kann aber Anwälte vermitteln - bei Streitwerten von mehr als 5000 Euro besteht am Gericht Anwaltspflicht. Informationen und Adressen, die im Schadensfall helfen, bietet das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. unter www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de.

Mehr Infos in Britta Konradts Buch "Behandlungsfehler. Ein Plädoyer für selbstbewusste Patienten und eine menschliche Medizin" (256 S., 19,99 Euro, Südwest 2012)

Text: Cornelia Gerlach BRIGITTE WOMAN 02/13

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