Wir werden immer fitter - nur wenn es um den Kopf geht, hört der Spaß auf: Da meinen inzwischen schon Mittdreißiger, erste Anzeichen von Vergreisung zu bemerken. Und so genannte Memory-Kliniken, die eigentlich zur Diagnose und Behandlung der Alzheimer-Krankheit da sind, werden zunehmend von Ratsuchenden in Anspruch genommen, die voll im Berufsleben stehen, aber an ihrer geistigen Leistungsfähigkeit zweifeln.
Es ist modern, über die eigene Zerstreutheit und Konzentrationsstörungen zu klagen. Doch die allermeisten von uns leiden lediglich unter den rasant wachsenden Anforderungen an unsere Merkfähigkeit. Ohne Pin-Codes und Passwörter geht nichts mehr, Gebrauchsgegenstände wie Telefon und Wecker werden mit daumendicken Handbüchern geliefert, im Job gibt’s ständig neue Herausforderungen, und aus den Medien ergießen sich Namen, Daten und Fakten über uns - bis zum Abschalten.
Währenddessen forschen Neurowissenschaftler fieberhaft nach einem Mittel gegen jene Art von Gedächtnisschwund, die erst durch unsere steigende Lebenserwartung zur Volkskrankheit wurde: die altersbedingte Demenz. Eine Pille gegen das Vergessen haben sie zwar noch nicht gefunden, aber viele neue Erkenntnisse über die Funktion unseres Erinnerungsvermögens. Und die zeigen erfreulicherweise nicht nur, wie wir unser Hirn dauerhaft auf Trab halten können, sondern helfen auch, Gedächtnis-Aussetzer gelassen zu ertragen.
Das Wichtigste in sieben Merksätzen:
Unser Gehirn speichert zwar jede Menge Informationen, aber es funktioniert nicht wie die Festplatte eines Computers. Es ist vielmehr ein launenhafter und manchmal eitler Weggenosse, will gelobt und belohnt werden.
Das zeigt eine neue Studie aus North Carolina: Vor einem Gedächtnistest konfrontierte man ältere Probanden mit negativen oder positiven Behauptungen über die geistige Leistungsfähigkeit ihrer Altersgruppe. Tatsächlich schnitten die Kandidaten, die man mit Lob eingestimmt hatte, deutlich besser ab als jene, die vor dem Test entmutigt wurden.
Wer sich mehr zutraut, leistet mehr - das können wir uns zunutze machen. Wer mit 40, 50 oder 60 eine weitere Fremdsprache lernt oder die Bewegungsabläufe beim Tai-Chi einstudiert, trainiert sein Gedächtnis - und bleibt länger geistig fit.
Besonders interessiert sich die Hirnforschung dafür, wie wir Lebenserinnerungen im Kopf speichern und abrufen. Die Neuropsychologin Anna Schwab am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen befragt Frauen nach wichtigen Erlebnissen - etwa ihrer Hochzeit oder der Geburt des ersten Kindes. Während sie sich solche bewegenden Episoden ins Gedächtnis rufen, wird die Hirntätigkeit gemessen.
Die Kernspin-Tomographien zeigen: Junge Menschen können Erinnerungen schnell und gezielt aus einer bestimmten Hirnregion "abrufen". Ältere brauchen dazu mehr Zeit, aktivieren aber auch größere und tiefer liegende Strukturen des Gehirns. "Wir beleben unsere Erinnerungen im Laufe des Lebens immer wieder aufs Neue – und jedes Mal, wenn das geschieht, entstehen neue Vernetzungen und Verschaltungen im Gehirn", erklärt die Neuropsychologin.
Das bedeutet außerdem: Wenn wir Erinnerungen bewahren wollen, müssen wir sie immer wieder in der Gegenwart andocken. Alte Fotos, Tagebücher, Briefe oder Eintrittskarten und der Austausch von Erinnerungen mit Schulfreundinnen oder Verwandten helfen uns dabei.
"Als ich jünger war, konnte ich mich an alles erinnern, gleichgültig, ob es passiert war oder nicht", stellte Mark Twain einmal fest. Aber mit den Jahren beobachte er, "dass ich mich an nichts mehr erinnere als an das, was nie passiert ist". Der Schriftsteller wusste: Unser Gedächtnis schreibt seine eigene Geschichte - und die Fantasie ist dabei Co-Autor.
Dabei verhält sich das Gehirn lebenslang wie ein Kind: Es möchte zu allem, was es sich merken soll, eine Geschichte. Mit etwa drei Jahren lernen Kinder einzelne Tatbestände und Eindrücke in Form kleiner Geschichten zu verarbeiten - und erst ab dann entstehen bewusste "Erinnerungen". Dabei mischen sich Dichtung und Wahrheit, eigene Erlebnisse mit den Erzählungen anderer. Halbwegs verlässlich, so die Gedächtnisforscher, sind vor allem einschneidende Ereignisse zwischen dem 18. und 30. Geburtstag gespeichert: Ausbildung, die erste eigene Wohnung, die erste große Liebe. Sobald Erlebnisse sich wiederholen, sind sie vom Vergessen bedroht.
Eben lag Ihnen der Name noch auf der Zunge? Von der Hauptdarstellerin des Films, dessen Titel Ihnen auch gerade entfallen ist? Bleiben Sie gelassen. Die "Blockierung" ist nur eine der sieben "Gedächtnissünden", sagt der amerikanische Hirnforscher Daniel L. Schacter in einem seiner Bücher ("The Seven Sins of Memory"). Er erklärt darin auch, wie unser Gedächtnis trickst, um Vergangenes zu vergolden. Wie es Niederlagen und Kränkungen verblassen lässt, während es Erfolge und kleine Heldentaten nachträglich überhöht. Wie es aber zugleich bewirkt, dass sich traumatische Erfahrungen, die wir gern vergessen möchten, ins Bewusstsein zurückdrängen.
Gedächtnislücken fallen uns meist nur auf, wenn sie lästig sind - etwa bei der Suche nach dem geparkten Auto. Doch diese Aussetzer, tröstet Daniel Schacter, sind nur der Preis für ein funktionierendes Erinnerungsvermögen: Wir müssen vieles vergessen, um uns überhaupt etwas merken zu können. In jedem Augenblick strömen so viele Eindrücle und Informationen auf uns ein, dass wir ohne ein effektives - und unbewusstes - Sortierprogramm bald nur noch Chaos im Kopf hätten.
Unser Gehirn macht sich seine eigenen Gedanken beim täglichen Sortieren, Speichern und Entsorgen von Informationen. Das zeigt das so genannte Baker/Baker-Paradox. Stellt man einer Gruppe von Testpersonen einen Mann namens Becker vor, haben die meisten diesen Namen bald darauf wieder vergessen. Wird ihnen aber derselbe Mann mit dem Hinweis vorgestellt, er sei von Beruf Bäcker, können sich die meisten später daran erinnern.
Die Erklärung für diesen Effekt: Während der Name allein über den Mann wenig aussagt, verknüpft sich die Information über seinen Beruf sofort mit Bildern (Mütze, Backofen, Brot), die im Gedächtnis haften bleiben. Gedächtnistrainings wie die so genannte Mnemo-Technik machen sich solche Mechanismen zunutze. Intuitiv benutzen wir solche Techniken ständig. Wenn wir einen Namen unbedingt behalten wollen, bauen wir uns eine Eselsbrücke: Wir stellen uns den Herrn beim Brötchenbacken vor - und haben gute Chancen, beim nächsten Zusammentreffen noch zu wissen, wie er heißt.
Lernen, Speichern und Erinnern - im Wesentlichen ändert sich an diesen Hirntätigkeiten nichts, ein Leben lang. Doch im Lauf der Jahre, so legen Studien nahe, verlagern sich die Schwerpunkte vom Aufnehmen zum Wissen, vom schnellen Merken zur sorgfältigen Verwaltung des Gelernten. So sind ältere Menschen den Jungen zumindest in einer Hinsicht überlegen: Sie wissen mehr.
Wo es aber darum geht, Eindrücke und Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu speichern, ist es umgekehrt: "Wenn Sie gegen einen Vierjährigen Memory spielen, werden Sie verlieren", erläutert die Gedächtnispsychologin Ute Bayen. Die Professorin an der University of North Carolina, selbst Mutter von zwei kleinen Kindern, hat es ausprobiert: "Wenn ich vier Wochen lang trainiere, kann ich allerdings gewinnen." Und wenn das Kind auch trainiert? "Dann habe ich keine Chance. Sogar ein junger Erwachsener wäre mir noch deutlich überlegen."
Ab etwa Mitte 30 spüren wir, dass die kurzfristige Merkfähigkeit nachlässt. Von nun an geht’s zwar kontinuierlich bergab, doch einen Grund zu Beunruhigung sieht Ute Bayen darin nicht: "Die besten 70-Jährigen sind besser als manche 20-Jährige", hat Ute Bayen festgestellt.
Unser Gehirn altert wie andere Organe auch. Neue Untersuchungsmethoden zeigen das manchmal genauer, als uns lieb ist. So konnte die Hirnforscherin Anna Schwab in den Kernspin-Aufnahmen ihrer Teilnehmerinnen erkennen, wie mit Wasser gefüllte Strukturen im Gehirn mit den Jahren austrocknen.
Doch die geistige Aktivität beeinträchtigen solche Abbauprozesse offenbar erst sehr spät: "Mir saßen da jedenfalls Frauen zwischen 60 und 75 gegenüber, die äußerst aktiv und interessiert waren, sich im Sportverein, in der Kirchengemeinde oder der Politik engagierten", erzählt Anna Schwab.
Auch Ute Bayen empfindet ihre Erkenntnisse nicht als deprimierend. Gegen Gedächtnislücken, findet sie, könne man ja etwas tun: "Notfalls hängt man sich eben ein paar Merkzettel mehr in der Wohnung auf." Ansonsten, weiß die Psychologin, hilft vor allem eins: gesund leben und Körper und Geist in Bewegung halten. So gesehen hat die oft ermüdende Informationsgesellschaft auch Vorteile: Sie bietet Trainingsmöglichkeiten fürs Gehirn-Jogging.
Bewegung: Eine Studie der University of Illinois zeigt, dass regelmäßiger Ausdauersport die Konzentration von Neurotransmittern im Gehirn erhöht. Musik: Wer ein Instrument lernt, bildet Verschaltungen im Gehirn, die andere geistige Fähigkeiten stärken, so eine Studie der Hochschule Hannover. Computer: Recherchen im Internet sind für Ältere ein hervorragendes Training, so Prof. Ute Bayen: Man übt, sich in einer Fülle von Informationen zu orientieren. Tanz und Theater: Für eine Studie in Basel bekamen 65- bis 85-Jährige Schauspielunterricht. Mit Hilfe professioneller Tricks lernten sie lange Texte auswendig. Eine Professorin der Universität Montreal bot Senioren einen Tangokurs an. Der Effekt: Beweglichkeit und Zahlengedächtnis verbesserten sich. Mnemo-Techniken: Man verknüpft Gedächtnisinhalte wie die Positionen eines Einkaufszettels mit Bildern: "Der Brokkoli hängt an der Zimmerdecke, die Schlagsahne steht auf dem Nachttisch." In Tests des Max-Planck-Instituts steigerten sich junge Teilnehmer so von acht auf 29 behaltene Begriffe, ältere brachten es auf 18 statt vier. Mnemo-Techniken lernt man aus Büchern oder in Kursen, z. B. an Volkshochschulen.