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Bakterien-Talk Wie der Darm unsere Psyche beeinflusst

Bakterien-Talk: Wie der Darm unsere Psyche beeinflusst
© Beauty Photo Studio/ Corbis
Gesund, fit, gut gelaunt: Die Bakterien in unserem Darm können mehr als Speisen verdauen. Sie beeinflussen auch unsere Psyche, zeigen aktuelle Studien.

Jeder hat einen, keiner erwähnt ihn: den Darm. Schließlich ist er fürs Verdauen zuständig, und das ist zugegebenermaßen nicht immer appetitlich. Doch jetzt ist es Zeit, alle Zurückhaltung über Bord zu werfen. Denn neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass das Organ aus der Tabuzone viel mehr ist als ein Dienstleister, der die Drecksarbeit macht.

Im Darm ist das Immunsystem zu Hause. Mehr als 70 Prozent der körpereigenen Antikörper-Fabriken sitzen dort. Zudem ist die Darmwand von einem Nervengeflecht durchzogen, das aus viel mehr Zellen besteht als das Rückenmark, was dem Verdauungsschlauch den Beinamen "Bauchhirn" eingebracht hat. Und nicht zuletzt leben in jedem Darm mehrere hundert - Experten schätzen bis zu 1000 - verschiedene Arten von Bakterien, insgesamt rund 100 Billionen, die für uns arbeiten.



Diese Mikrobiota (auch "Mikrobiom" oder umgangssprachlich "Darmflora" genannt) ist im Augenblick einer der spannendsten Forschungsgegenstände in der Medizin. Denn es mehren sich die Hinweise darauf, dass sie nicht nur bei chronischen Darmentzündungen eine große Rolle spielt, sondern auch bei der Entstehung von Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Allergien und Rheuma. Und dass unsere Darmflora sogar regeln könnte, was wir auf die Waage bringen und wie zuversichtlich wir dem Leben begegnen.

Unsere Darmflora beeinflusst unser Verhalten

"Der Hype um den Darm zurzeit ist vergleichbar mit der Euphorie bei der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts", sagt Dr. Annett Braune, Mikrobiologin am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke. Damit meint sie nicht nur die Aufregung um das Thema und die Hoffnungen auf neue Behandlungsmöglichkeiten, die damit verbunden sind, sondern auch die modernen Analyseverfahren, die in hohem Tempo zahlreiche Bakterienarten bestimmen können und diese Entwicklung erst möglich gemacht haben.

Betrachtet man die erstaunlichen Ergebnisse einiger Experimente, ist die Euphorie verständlich: Zum Beispiel haben Forscher Mäusen einer ängstlichen Rasse Antibiotika gegeben, die ihre Darmflora zerstören. Daraufhin verhielten sich die Tiere plötzlich wagemutig und unternehmungslustig. Als die Wissenschaftler Darmbakterien einer mutigen Mäuserasse auf zaghafte Tiere übertrugen (und umgekehrt), wechselten auch die Charaktereigenschaften den Besitzer. Sogar wie eine Maus in einer verzweifelten Lage (im Experiment ist das ein Wasserbecken, in dem sie nicht stehen kann) reagiert, hängt von ihrer Darmflora ab: Bekommt sie zuvor bestimmte darmfreundliche Laktobazillen (so genannte Probiotika) gefüttert, gibt sie ihren Plan, an Land zu schwimmen, nicht so schnell auf und hat dabei weniger Stresshormone im Blut als ohne die "guten" Mikroorganismen.

Werden Lustlosigkeit, schlechte Stimmung und ein Hang zur Depression am Ende nicht im Kopf festgelegt, sondern im Darm? Sollte sich das bestätigen, wäre das ein wahrer Paradigmenwechsel, denn bisher hat niemand die Vorherrschaft des Gehirns angezweifelt. Natürlich kann man nicht ohne Weiteres von Mäusen auf Menschen schließen. Aber spätestens die 2013 veröffentlichte Untersuchung von Emeran Mayer an der University of California in Los Angeles legt nahe, dass an dieser These etwas dran sein könnte: Der Wissenschaftler ließ Frauen vier Wochen lang regelmäßig einen probiotischen Joghurt essen. Es zeigte sich, dass bei ihnen bestimmte Hirnregionen schwächer auf negative Reize reagierten als bei Versuchspersonen, die in dieser Zeit normalen Joghurt gegessen oder sich wie bisher ernährt hatten.

Dass Kopf und Bauch eng miteinander verzahnt sind, wissen wir alle: Wir haben "Schiss" vor Prüfungen und Schmetterlinge im Bauch, wenn wir verliebt sind. Bei schwierigen Fragen entscheidet im Zweifel das Bauchgefühl. Traurigkeit verdirbt uns den Appetit, und wenn wir zu lange nicht gegessen haben, geht die Laune in den Keller.

Wie schnell wir uns wieder wohl fühlen, hängt von unserer Darmflora ab

Verantwortlich dafür ist unter anderem der Vagusnerv, der wie eine direkte Leitung aus dem Bauch ins Hirn funktioniert. Er läuft durch das Zwerchfell, an der Speiseröhre entlang, durch den Hals nach oben und sorgt dafür, dass der Kopf alles mitbekommt, was die vielen Nervenzellen im Darm melden. Informationen, die über diesen Nerv im Gehirn ankommen, werden zum Teil in Regionen verarbeitet, die für Emotionen zuständig sind, im sogenannten limbischen System. Das erklärt die enge Verbindung zwischen Kopf und Bauch. Und offensichtlich nutzen auch Mikroben diese Leitung ins Oberstübchen: War im Experiment mit der schwimmenden Maus der Vagusnerv ausgeschaltet worden, hatte die Laktobazillus-Darmfora keinen positiven Effekt mehr.

Doch nicht nur die Mikrobiota funkt an den Kopf - der Kopf beeinflusst umgekehrt auch die Besiedelung im Verdauungstrakt. "Stress verändert die Komposition der Darmflora", sagt Professor Stephan Bischoff, Ernährungsmediziner an der Universität Hohenheim. In einem gestressten Darm fühlen sich andere Keime wohl als in einem, dessen Besitzer ganz entspannt ist. So zeigte zum Beispiel eine Studie aus Australien, dass Studenten in der Prüfungsphase weniger der erwünschten Laktobazillen haben als zu Beginn eines Semesters.

Solche Veränderungen könnten erklären, warum viele von uns in anstrengenden Zeiten so oft erkältet sind. Denn die Darmflora bietet der körpereigenen Abwehr eine Art Bootcamp, in dem diese ständig trainiert wird. Und sie regt die Darmschleimhaut an, bakterizide Proteine zu bilden, das sind Eiweißstoffe, die Krankheitserregern zusetzen. Inzwischen haben Studien gezeigt, dass man seltener, kürzer und weniger intensiv mit Erkältungen zu tun hat, wenn man Probiotika nimmt. Die Vermutung, dass sich auf diese Weise auch anderen Infekten vorbeugen lässt, liegt auf der Hand. Die Abwehrstoffe verteilen sich nämlich von der Darmschleimhaut aus über das Gefäßsystem im ganzen Körper.

Beeinflusst unsere Darmflora auch das Essverhalten?

Laut neuesten Erkenntnissen lässt sich aber möglicherweise noch etwas über die Darmflora beeinflussen: das Körpergewicht. Denn es sieht so aus, als sei das Mikrobiom auch für das häufig belächelte Phänomen des "guten Futterverwerters" verantwortlich. Fakt ist: Die Darmbakterien helfen uns verdauen, indem sie Enzyme produzieren, die langkettige ("komplexe") Kohlenhydrate wie etwa Ballaststoffe aufspalten. Erst dadurch steht dem Körper deren Energie zur Verfügung.

Die Darmflora von Dicken unterscheidet sich jedoch deutlich von der schlanker Menschen; sie kann mehr Kalorien aus der Nahrung ziehen als die von Dünnen. Für sie zählt jeder Bissen mehr. Der Effekt macht rund 150 Kalorien am Tag aus, so eine Studie des amerikanischen National Institute of Health. Bei Mäusen stieg die verwertete Energie um rund zehn Prozent, nachdem die Darmflora verändert worden war.

Und das ist noch nicht alles. "Die Bakterien beeinflussen auch die Bildung von Hormonen wie Serotonin im Verdauungstrakt", sagt Ernährungsmediziner Bischoff. "Der Verdacht liegt nahe, dass auf diesem Wege auch das Essverhalten moduliert wird." Denn Serotonin macht satt und zufrieden. Wie ruhig jemand auf der Couch sitzen kann, wenn in der Küche noch eine halbe Tafel Schokolade liegt, könnte also unter anderem von unseren Darmbewohnern abhängen.

Bis heute spielt die Mikrobiota in den meisten Hausarztpraxen kaum eine Rolle.

Psyche, Immunsystem, Körpergewicht und Krankheiten: Erstaunlich ist nicht nur, was alles vom Darm mitgeregelt wird, sondern auch, dass von diesen Zusammenhängen bis vor wenigen Jahren niemand etwas geahnt hat. Bis heute spielt die Mikrobiota in der durchschnittlichen Hausarztpraxis kaum eine Rolle, wenn man von der Behandlung bestimmter Darmerkrankungen absieht. Noch immer werden zu viele Antibiotika verordnet, obwohl sie bekanntermaßen die Darmflora schädigen, indem sie nicht nur krankmachende, sondern auch zahlreiche nützliche Keime abtöten.

Naturheilkundlich orientierte Ärzte sind schon lange sehr zurückhaltend bei der Verordnung solcher Medikamente und empfehlen probiotische Bakterienpräparate im Anschluss an den antibakteriellen Kahlschlag. Professor Jost Langhorst, Integrativer Gastroenterologe (Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen) an den Kliniken Essen-Mitte, ist deswegen froh über die jüngsten Erkenntnisse: "Dass das Thema Mikrobiota jetzt die Beachtung erhält, die es verdient, freut mich sehr." In der Naturheilkunde werde die Darmflora bereits seit über 100 Jahren berücksichtigt, so der Experte. "Und schon in der chinesischen Heilkunst wurde vieles mit der 'gelben Suppe' therapiert."

Gelbe Suppe? Das ist verdünnter Stuhl eines gesunden Menschen, der über den After direkt in den Darm des Patienten gegeben wird, Ekelfaktor inklusive. Als sogenannte Stuhltransplantation ist das Verfahren gerade wieder im Kommen. Bei bestimmten schweren Durchfallerkrankungen liegt die Heilungsrate bei spektakulären 90 Prozent.

Grundsätzlich ist es Ihrem Körper egal, in welcher Form darmfreundliche Bakterien wie etwa Laktobazillen oder Bifidobakterien eingenommen werden. In Kapsel- oder Pulverform ist allerdings wesentlich mehr davon nötig als in einem Milchprodukt. Der Grund: Die Joghurt-Matrix schützt die Bakterien vor dem Angriff der Magensäure, so Professor Stephan Bischoff von der Universität Hohenheim. Nützliche Bakterien stecken übrigens nicht nur in speziell ausgelobten probiotischen Joghurts, sondern auch in den anderen sowie in Kefir, Buttermilch, Sauerkraut und sauren Gurken. Da sie sich nicht im Darm ansiedeln, müssen sie über einen längeren Zeitraum eingenommen werden. Besonders sinnvoll sind Probiotika nach einer Antibiotikatherapie, beim Reizdarmsyndrom, bei Verstopfung und bei entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa.

Darüber hinaus können Sie Ihrem Darm auch mit sogenannten Präbiotika Gutes tun. Das sind Bestandteile in Lebensmitteln, die Wachstum und Aktivität guter Darmbakterien anregen. Besonders geeignet sind lösliche Ballaststoffe wie Inulin (etwa in Topinambur oder Chicorée, aber auch zugesetzt in vielen Lebensmitteln) oder Fruktooligosaccharide (auf Joghurtbechern auch Oligofructose genannt). Aber nicht gleich drei solcher Joghurts auf einmal essen: Wenn die Bakterien diese Stoffe zersetzen, entstehen Gase, und das kann unangenehm werden. Besser ist es, viel Gemüse und reichlich Vollkornprodukte zu verzehren.

Ob solche Empfehlungen auch künftig für Frauen wie Männer gleichermaßen gelten werden, muss noch genauer erforscht werden. Wie ein internationales Forscherteam jetzt herausfand, gibt es auch im Darm geschlechtsspezifische Unterschiede: Selbst wenn das Gleiche in gleicher Menge gegessen wurde, wirkte sich das auf weibliche und männliche Darmflora nicht gleich aus.

Text: Diana Helfrich Ein Artikel aus der BRIGITTE woman 11/2014

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