Wir besuchen Yogakurse und lassen uns im Fitnessstudio korrigieren, wenn wir eine Übung falsch ausführen. Beim Joggen dagegen nehmen wir keinen Unterricht. Wir laufen einfach los. Über unsere Körperhaltung und Lauftechnik machen wir uns erst Gedanken, wenn wir Schmerzen bekommen. Millionen von Läufern verletzen sich Jahr für Jahr an Knie, Schienbein, Rücken oder Hüfte - oft eine Folge von Übertraining und falscher Belastung, denn der Irrglaube "Je härter das Training, desto besser die Erfolge" ist tief in den Köpfen der Sportler verankert.
Auch der amerikanische Ultraläufer Danny Dreyer hatte mit Knieschmerzen zu kämpfen. Auf seiner Suche nach einer Lauftechnik, die keine Schmerzen verursacht, lernte er 1997 einen Tai-Chi-Meister kennen, der sich mühelos und kraftvoll bewegte - aus seiner Körpermitte heraus, die Arme und Beine ließ er einfach folgen. Bewegungen von der Längsachse unseres Körpers aus zu steuern ist eine der zentralen Lehren im Tai-Chi. "Die Beobachtung der Natur zeigt uns, dass die Stärke eines Baumes ebenfalls von seinem Stamm ausgeht und nicht von seinen Zweigen und Blättern. Warum sollte es beim menschlichen Körper anders sein?", fragt Dreyer in seinem Buch
, mit dem er seine Lauftechnik weltweit bekannt machte.
Darin erklärt er etwas langatmig, aber durch viele Beispiele und Übungen sehr anschaulich, wie er die Erkenntnisse des Tai-Chi auf das Laufen übertragen und daraus einen Laufstil entwickelt hat, der für Anfänger und Leistungssportler gleichermaßen effizient ist. Eine Art des Laufens, wie sie bei Kindern zu beobachten ist: "eine schöne Neigung, ein toller, nach hinten geöffneter Schritt, die Fersen hoch in der Luft, ein lockerer Armschwung und lockere Schultern", beschreibt Dreyer ihre natürlichen Bewegungen. Leider verlernen wir als Erwachsene diese Leichtigkeit meist durch unsere Anspannung und den Alltagsstress, der uns begleitet.
Ziel des ChiRunnings ist es, zurück zu einem entspannten Laufstil zu finden. Im Kern geht es darum, die Erdanziehungskraft und die Kraftreserven aus der Körpermitte geschickt zu nutzen, um die Beine zu entlasten und so mit weniger Anstrengung schneller und weiter laufen zu können. Auch wenn Dreyer viel über die Kraft unseres Chi - die (nicht messbare) Lebensenergie - spricht und darüber, wie es ungehindert durch den Körper fließen kann, basiert ChiRunning auf den Gesetzen der Biomechanik. Vier wesentliche Aspekte sind:
Wenn wir unseren aufrechten Körper beim Laufen vom Sprunggelenk aufwärts wie eine Säule leicht nach vorne neigen (fühlt sich so an, als würde man fast umfallen), können wir die Kraft der Erdanziehung für uns arbeiten lassen - sie zieht uns förmlich nach vorne. Die Füße landen so unter statt vor uns.
Durch die Vorneigung setzen wir automatisch mit dem Mittelfuß auf, der dann wiederum ohne große Kraftanstrengung den Boden nach hinten wegschiebt. Man drückt sich also nicht mit jedem Schritt ab, sondern hebt lediglich die Füße, um nicht vornüber zu fallen. Der Fuß ist in einer Linie mit den Hüften und den Schultern.
Stehen die einzelnen Körperteile im richtigen Verhältnis zueinander, können wir uns in der Bewegung entspannen. Im Tai-Chi nutzt man das Bild einer in Watte gehüllten Nadel, um diese Körperausrichtung zu veranschaulichen. Die Nadel steht für unsere Körperachse: Kopf, Schultern, Hüften und Sprunggelenke sind in einer Linie. Die Arme und Beine sind so weich wie Watte, völlig entspannt und locker. Das Becken rotiert um die Körperachse, sodass die Beine ungehindert nach hinten schwingen können.
Beim Laufen sollten die Füße so kurz wie möglich Bodenkontakt haben, damit unsere Beine möglichst wenig Energie in das Tragen unseres Körpergewichts stecken müssen. Dreyer empfiehlt 170-180 Schritte pro Minute, was sich über ein Metronom gut überprüfen lässt. Um das Tempo zu steigern, wird nicht die Schrittfrequenz erhöht, sondern die Schrittlänge vergrößert. Je mehr man sich nach vorne neigt, desto länger wird der Schritt und desto schneller läuft man.
Ohne viel Nachdenken und In-Sich-Reinfühlen lässt sich ChiRunning allerdings nicht erlernen, denn es ist prozess- statt zielorientiert. Und selbst mit Denken entwickelt man erst allmählich ein Gefühl dafür, wie sich Dreyers Chi-Skills (Konzentration, Body Sensing, Atmung und Entspannung) und Form Focuses (Haltung, Neigung, Unterkörper, Beckenrotation, Oberkörper und Schrittfrequenz / Schrittlänge / Gänge) beim Laufen umsetzen lassen.
Inzwischen gibt es auch in Deutschland einige wenige ChiRunning-Trainer, die die Methode bei Danny Dreyer gelernt haben und die Kurse dazu anbieten. Zwei davon sind Angelika Sänger und Purna-Samarpan Querhammer. "Es dauert ein bis zwei Monate, bis man die Lauftechnik verinnerlicht hat", sagt Querhammer, der früher als Handballtrainer gearbeitet und inzwischen drei Mal den Ironman und mehr als 70 Marathon-Läufe erfolgreich absolviert hat. "Anfänger lernen das ChiRunning sogar oft besser, weil sie unbedarfter sind." Auch wenn die Methode Übung braucht: Für Menschen, die beim Laufen Schmerzen haben oder es deswegen aufgegeben haben, ist ChiRunning zumindest einen Versuch wert.