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Das Leben pflegen

120 Jahre alt könnten wir alle werden, behaupten Wissenschaftler. Bei bester Gesundheit. Für die chinesische Medizin nichts Neues.

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Ich habe einen Traum. Darin bin ich unterwegs, für lange Zeit, reise um die Welt, voller Energie und Tatkraft und bei bester Gesundheit, als Ruheständlerin. Dann wache ich auf und frage mich: Wie schaffe ich es, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen? Was muss ich tun, damit der Alltag möglichst wenig Spuren hinterlässt, gnädig mit meinem Körper und meinem Geist umgeht?

Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich, statistisch jedes Jahr um drei Monate. Schon heute leben wir länger als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Und wenn wir Wissenschaftlern, die Alterungsprozesse erforschen, Glauben schenken, ist die Grenze noch nicht erreicht. 1000 Jahre könnten wir werden, verspricht Aubrey de Grey aus Cambridge, Leiter der Methusalah Foundation und die schillerndste Persönlichkeit unter den Biogerontologen - falls er es irgendwann schaffen sollte, seine sieben Strategien zur Bekämpfung des Alterns, kurz SENS genannt, medizintechnisch umzusetzen.

Altern als lästige, aber grundsätzlich reparable Krankheit. Diese Vorstellung des exzentrischen Briten belächeln seriöse Altersforscher zwar. Doch dass wir durchaus 120 bis 140 Jahre erreichen könnten, darüber besteht kaum noch ein Zweifel. Mädchen, die im letzten Jahr geboren wurden, werden nach Meinung des Berliner Robert Koch Instituts bereits eine mittlere Lebenserwartung von 100 Jahren haben.

Eine gute Perspektive. Allerdings so spektakulär, wie die Wissenschaftler uns weismachen wollen, ist diese neuerliche Altersschallgrenze nicht. Denn bereits vor 2500 Jahren galt sie im alten China als durchaus erreichbar. Vorausgesetzt, man beachtete einige Regeln. "Yangsheng" heißt die fernöstliche Lehre der "Lebenspflege", zur Bewahrung von Gesundheit, Kraft und Wohlbefinden. Und die Empfehlungen, die darin gegeben werden, sind hochaktuell.

Seit der Entstehung der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) sind die Methoden, die das "Leben nähren", eine wichtige Säule im Gesamtkonzept. Ziel ist es, Körper, Geist und Seele ins Gleichgewicht zu bringen und in Harmonie mit der Umwelt zu leben. Dann wird die Lebensenergie stets gut gespeist, erschöpft sich nicht so schnell und kann ungehindert durch den Körper fließen. Das hilft uns, gesund zu bleiben, uns wohl zu fühlen und lange zu leben.

Erreicht werden soll dies durch Ernährungstherapie - zum Beispiel die "Fünf-Elemente-Ernährung" -, Qi-Gong mit Bewegungs- und Atemübungen, die Kraft des Geistes, Meditation und eine maßvolle Lebensführung im Einklang mit unserer Umwelt.

"Yangsheng hilft, die eigenen Kräfte zu bewahren, zu sich zu kommen und ein gutes Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen", sagt Dr. Ute Engelhardt, Sinologin und Vizepräsidentin der Internationalen Gesellschaft für Chinesische Medizin (SMS) aus München. "Yangsheng könnte deshalb als frühe Form des Anti-Aging gesehen werden. Allerdings wirft man keine Pille ein, sondern tut selbst etwas."

Das Spannende dabei: Das, wozu chinesische Ärzte schon vor langer Zeit aufgrund ihres reichen Erfahrungsschatzes geraten haben, um lange gesund und vital zu bleiben, empfehlen inzwischen - an moderne Lebensverhältnisse angepasst - auch westliche Schulmediziner. Und wissenschaftliche Studien bestätigen es. So kann regelmäßige Bewegung in Form von Ausdauertraining den Alterungsprozess verlangsamen, wie eine seit 1984 laufende Untersuchung der Stanford-Universität jetzt gezeigt hat.

Forscher der Universität Cambridge fanden kürzlich in der groß angelegten Epic-Norfolk-Studie Ähnliches heraus: Wer zusätzlich zu Bewegung viel Obst und Gemüse isst, nur wenig Alkohol trinkt und aufs Rauchen verzichtet, kann statistisch gesehen 14 Lebensjahre gewinnen. Jünger als sein wahres Alter sein - allein durch einen etwas anderen Lebensstil.

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Kleine Veränderungen, große Wirkung? Durchaus. Denn dass unser körpereigener "Reparaturservice", der mithilfe von Stammzellen 90 Prozent unseres Gewebes regelmäßig runderneuert, irgendwann seinen Dienst quittiert und wir altern, hängt zum großen Teil von sechs "Buchstaben" ab: TTAGGG. So lautet die Schlusssequenz von Basenpaaren, die sich, zum Schutz des Erbgutes, jeweils am Ende unserer Chromosomen wiederholt, in jungen Zellen viele tausend Mal. Bei jeder Zellteilung gehen jedoch mehrere dieser Sechserfolgen verloren, das ganze Endstück des genetischen Codes, Telomer genannt, schrumpft immer mehr zusammen. Irgendwann ist es aufgebraucht und keine Zellteilung mehr möglich, weil sonst das "echte" Erbgut angegriffen würde. Für den Körper das Zeichen, den Reproduktionsprozess zu beenden. Die Zelle altert und stirbt.

So stoppen die schwindenden Telomere nach und nach das Erneuerungspotenzial von Haut, Knochen und Organen. Aufhalten könnte diesen Prozess nur ein Enzym, die Telomerase, das den Chromosom-Endstücken neue Sechser-Buchstabenfolgen hinzufügt. Das Problem: "Telomerase hat auch eine negative Seite. Sie tritt vor allem in Krebszellen auf. Dort hält sie die Telomere lang und macht so die Zellen unsterblich", sagt die spanische Molekularbiologin Dr. Maria Blasco. Für ihre Suche nach Mitteln, die Körperzellen langlebiger machen, hat sie den diesjährigen Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft erhalten. "Doch bis ein Stoff gefunden ist, der Telomerase beim Menschen gezielt dort aktiviert, wo wir es wollen", so Blasco, "kann es noch 20 Jahre dauern."

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So lange müssen wir jedoch nicht warten, wir können schon jetzt etwas tun. Die Erforschung der Telomere hat nämlich auch gezeigt, dass UV-Strahlung, Alkohol, Nikotin, Umweltgifte, unausgewogene Ernährung und ständige Überlastung dazu beitragen, dass die schützenden Endstücke schneller schrumpfen. Denn durch diese äußeren Einflüsse entstehen freie Radikale, die den Stoffwechsel in den Zellen ungünstig beeinflussen. Wer solchen, wie die Wissenschaftler sagen, "oxidativen Stress" durch eine gesunde Lebensweise vermeidet, erhält wertvolle Buchstabenfolgen am Chromosomenende.

Und: "Auch wenn sie nur ein Faktor sind", so Maria Blasco, "für ein langes Leben sind lange Telomere auf jeden Fall hilfreich." So gelten diese Endstückchen bereits jetzt als ein guter Marker für das biologische Alter eines Menschen. Und das muss nicht unbedingt mit dem Alter im Pass übereinstimmen! Also: Je gesünder man lebt, desto länger die Telomere - und damit die Lebenszeit.

So bestätigt die westliche Forschung letztendlich die Erfahrungen des chinesischen Yangsheng. Das Sympathische dabei: Gesund leben, um das Leben zu pflegen, bedeutet nicht automatisch Verzicht und Askese. "In der TCM soll man nichts sollen", sagt Dr. Ilse-Maria Fahrnow, Ärztin, Psychologin und Expertin für Fünf-Elemente-Ernährung aus Utting am Ammersee. "Es geht weniger um aktuelle Launen des Geschmacks als um eine gute Körperwahrnehmung, bei der jeder seinen ursprünglichen Instinkten folgt. Gut ist das, was gut tut." Die Suche danach auch eine Lebensaufgabe.

Doch egal, was man selbst tut, wichtig ist stets, Zhong Yong, die "goldene Mitte", zu finden. Das richtige Maß für jeden ganz persönlich. Maßhalten statt verausgaben, bewahren statt verschwenden. Nicht zu heiß, nicht zu kalt. Ausgewogenheit und Harmonie - egal, ob es um Ernährung, Bewegung, Alkohol, Schlaf, Emotionen oder Sex geht.

Die heutige Schulmedizin empfiehlt Ähnliches zur Gesundheitsvorsorge, wenn auch nüchterner, entseelter. Statt von "Brokatübungen" ist da von Joggen nach Pulsfrequenz die Rede, statt von "energetisierten Speisen" von fünf Portionen Obst und Gemüse täglich. Da klingt die fernöstliche Variante für viele in unserer multikulturellen Gesellschaft gefühlvoller, attraktiver.

Aber bringt uns das Kochen im "Fütterungszyklus" wirklich mehr als eine ausgewogene heimische Mischkost? Ist Qi-Gong effektiver als Walken oder Radfahren? Eine schwierige Frage, vor allem aus der Sicht der Schulmedizin. Ost-West-Vergleiche sind da aufgrund der unterschiedlichen Konzepte nur schwer möglich. Dass Qi-Gong-Übungen Stress reduzieren, beruhigen, das Immunsystem stärken und sogar Blutdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes günstig beeinflussen, haben zahlreiche Studien jedoch inzwischen gezeigt. "Qi-Gong ist keine Wunderwaffe, die alle Probleme löst, aber eine wunderbare Methode, um Vitalität und Wohlbefinden zu erhalten", sagt Dr. Johann Bölts, der seit 20 Jahren an der Universität Oldenburg das Projekt Traditionelle Chinesische Heilmethoden und Heilkonzepte (PTCH) leitet.

Letztendlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, um unsere Telomere möglichst lang zu halten. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was gut und stimmig ist. "Das Leben zu pflegen lohnt sich immer", sagt Dr. Anna Paul, die an den Kliniken Essen Mitte für Ordnungstherapie zuständig ist. Und für Mind-Body-Medizin, die - wie sie selbst sagt - "aktualisierte Form der Lebenspflege".

Jahrhundertelang war diese Idee auch in der westlichen Tradition verankert, bevor sie durch die naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin mit ihrem Reparaturgedanken verdrängt worden ist. Erst neuerdings werden in der ganzheitlichen Integrativen Medizin beide Konzepte wieder zusammengeführt. Langsam besinnen wir uns wieder darauf, dass eine gesunde, positive, ausgewogene und achtsame Lebensführung uns körperlich und seelisch stabiler macht. Wir wertschätzen unser Leben wieder. Dadurch wird nicht jede Krankheit komplett verhindert, aber Beschwerden lassen sich, so Anna Paul, besser bewältigen, die Widerstandskraft ist größer, die Lebensqualität steigt. Die Lebensfreude genauso. Und das ist die beste Voraussetzung für ein erfülltes, zufriedenes Leben - auch wenn es nicht ewig dauert.

Text: Monika Murphy-Witt Foto: Getty Images

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