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Wie ich lernte, dick und glücklich zu sein

Wie ich lernte, dick und glücklich zu sein
© Flotsam / Shutterstock
Lange hat Mascha, 24, versucht, sich den gängigen Schönheitsvorstellungen anzupassen. Schlank wurde die 120-Kilo-Frau nicht. Heute ist sie mit ihrem Körper versöhnt.

Mascha sagt, sie sei fett. Nicht dick oder pummelig - fett. Verletzend findet sie nicht das Wörtchen "fett". Eher das Herumgeeiere, wenn verharmlost werden soll, was offensichtlich ist. Du bist doch nicht fett, heißt es dann. Korpulent vielleicht. "Bei diesem Eiertanz fühle ich die Ablehnung am allermeisten", sagt Mascha. Andere sind weniger zimperlich: "Das würde ja nicht mal ich anziehen!", zischte eine junge, ziemlich dünne Frau kürzlich ihrer Freundin zu, als Mascha auf einer Party neben den beiden auftauchte. Mascha trug einen schmalen, mit Rosen bedruckten Rock, dazu Shirt und Jeansjacke. Abschätzige, scheinbar beiläufige Blicke, verhaltenes Grinsen. Die Lautstärke so wohltemperiert, dass kein Wort verloren geht. Mascha war die "fette Qualle", die "dicke Kuh", die Frau, die man im Vorübergehen mal kurz darüber informiert, wie unmöglich sie aussieht. Oder über die man im Café die Augen verdreht, wenn sie ein Stück Kuchen serviert bekommt. "Ich höre immer die gleichen Bemerkungen", sagt Mascha. "Wenn's ums Beleidigen geht, hält sich der Einfallsreichtum in Grenzen." Kürzlich hat ihr einer "Cindy aus Marzahn" hinterhergerufen. Endlich mal was Anderes. Sie musste lachen. 120 Kilo machen Mascha fett.

Wäre es halb so viel Gewicht, Mascha wäre eine 24-Jährige wie viele andere auch: 1,76 Meter groß, hübsch, mit dunkelbraunem, schulterlangem Haar und dunkelbraunen Augen. Eine junge Frau, die gerade ihren Master in English Literatures an der Humboldt Universität Berlin macht und sich selbst als "fröhlich, aufgeschlossen und kontaktfreudig" beschreibt. Und, ja, auffallend findet sie sich auch, weil sie Mode mag und das auch mit Konfektionsgröße 54 zeigt: an den schlechten Tagen Jeans und Kapuzenpulli, an den guten ein feminines Kleid. Am liebsten das orangerote im Fifties-Look mit dem schwarzen Band in der Taille. Keine Tarnung, keine Zelte, nichts Verhüllendes, das sie zur Staffage macht.

"Eine schlanke Frau würde in meinen Kleidern gar nicht auffallen", sagt Mascha. "Ich tue das nur, weil so ein Look mit meiner Figur ungewöhnlich ist." Mascha sagt, dass sie aus dem Anerkennungsraster fast aller Menschen herausfalle. So was tut weh. Als Kind und Teenie war es für Mascha besonders hart. "Wenn du jetzt noch abnimmst, bist du ein hübsches Mädchen", hat ihr der Kieferorthopäde, der eigentlich für ihre Zahnspange zuständig war, nach jeder Kontrolle prophezeit. Vom Hausarzt bekam sie jahrelang ungefragt Ernährungspläne in die Hand gedrückt. Sportunterricht gab es gleich zweimal die Woche. "Wenn du fett bist, dreht sich plötzlich alles um deine Figur", sagt Mascha. "Du bist ein Mensch zweiter Klasse." Mehr als zehn Jahre lang hat Mascha mit Anpassungsversuchen und Diäten reagiert. Mal hat sie 15 Kilo in drei Monaten abgenommen, mal zehn. Halten konnte sie das durch Sport und Verzicht hart erkämpfte Gewicht aber nie.

"Für so vieles, was Menschen nicht gelingt, gibt es Entschuldigungen. Nur wir Dicken sind immer die Täter"

Langsam dämmerte ihr: "Ich müsste mein Leben lang kämpfen - und wäre doch nie schlank. Für diese Selbstkasteiung ist mir mein Leben zu schade." Den Grundstein für ihr neues Selbstbild legte dann ein Auslandssemester in London: "In einer Weltmetropole mit so vielen unterschiedlichen Menschen hatte ich plötzlich nicht mehr das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Dumme Kommentare wie daheim waren einfach seltener." Mascha traf die Entscheidung, auf die Erwartungen anderer zu pfeifen und sich mit ihrem Körper auszusöhnen: "Ich wollte nicht mehr länger einem Schlankheitsideal hinterherrennen, das mich meine Fröhlichkeit kostete. Also habe ich mir vorgenommen, meinen Körper so anzunehmen, wie er ist." Seither versucht die 24-Jährige, sich so ausgewogen wie möglich zu ernähren, die Kilos, die sie sich in der Vergangenheit angegessen hat, zu akzeptieren - und niemals, wirklich niemals Extra-Kleidung für Dicke zu kaufen.

Auf Sport möchte sie in Zukunft genauso verzichten wie auf Erklärungen, die ihr Übergewicht plausibel machen sollen. Ob sie aus dem Leim gegangen ist, weil ihre Familie nach mageren Jahren im ehemaligen Sowjetstaat Kasachstan - als sie umzog, war Mascha vier Jahre alt und schlank - im reichen Deutschland so viel nachzuholen hatte? Weil ihre Eltern sich scheiden ließen, als sie zwölf war? Weil sie als Ersatzmutter für ihren jüngeren Bruder überfordert war? Alles denkbar. Oder eben auch nicht. Mascha hat es satt, ihr Gewicht zu begründen, als würde sie sich selbst anklagen. "Für so vieles, was Menschen nicht gelingt, gibt es Entschuldigungen. Nur wir Dicken sind immer Täter. Weil viele glauben, jeder könne schlank sein, wenn er es nur möchte."

"Ich glaube nicht, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Maßen einer Frau und der Qualität ihrer Beziehung"

Regel Nummer eins, wenn sie mit ihren Freunden und Bekannten zusammen ist: keine Gespräche über Problemzonen, Traummaße oder Gewichtszunahmen. Keine Ursachenforschung. Und kein schlechtes Gewissen beim Essen. Ein paar Bekannte und Freunde sind irgendwann weggeblieben, weil Mascha ihnen zu radikal war. Andere sind geblieben, weil auch sie keine Lust mehr hatten, sich der ständigen Thematisierung und Bewertung ihres Körpers zu unterziehen, auch dann nicht, wenn sie schlank sind. Für Mascha ist die Absage an die Schönheitsvorstellungen der Mehrheit keine rhetorische Übung. Seit sie sich hinter sich selbst gestellt hat, fühlt sie sich besser in ihrer Haut. Immer häufiger entdeckt sie im Spiegel einen "fetten, aber wohlproportionierten Körper". Und einen Po, den sie "wirklich mag". Einen Körper zu akzeptieren, den ziemlich viele ziemlich hässlich finden, braucht seine Zeit. Mascha sagt, ihr Selbstbewusstsein sei langsam gewachsen - ein Prozess, der wahrscheinlich niemals aufhöre.

"Am schwierigsten sind die Tage, an denen ich mir was zum Anziehen kaufen möchte und in nichts reinpasse", erzählt sie. Am schönsten die, an denen sie feststellt, dass einige Leute genau wie sie denken und ihr Versuch, sie selbst zu bleiben, sie nicht einsamer, sondern stärker macht. Unverzichtbar auf diesem Weg: Freunde, das Studium, Bücher und Blogs (siehe Kasten). Seit London hält Mascha Kontakt zu Anhängern der US-amerikanischen Fat-Acceptance-Bewegung, einer Art Gesellschaft gegen Gewichts-Diskriminierung, die Dicken den Rücken stärken möchte. "Fett wird man nicht, man wird so geboren", sagen dort manche. Andere behaupten, dass es überhaupt keine Essstörungen gibt, die zu Fettleibigkeit führen. Oder dass fette Menschen kein erhöhtes Gesundheitsrisiko haben. Mascha teilt nicht alle Argumente. Eines aber sehr vehement: "Nicht der Körper ist das Problem, sondern die negative Einstellung ihm gegenüber." Das ändert zwar nichts am Schönheitsideal der Mehrheit, an ihrem eigenen aber schon.

Und die Männer? Mascha zuckt mit den Schultern. Ist es das Übergewicht oder ihr Selbstbewusstsein, das das andere Geschlecht auf Distanz hält? Oder etwas ganz anderes? Keine Ahnung. "Ich glaube nicht, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Maßen einer Frau und der Qualität ihrer Beziehungen. Und schlanke Singles gibt es auch." Und wenn sie den Bruch mit fremden Erwartungen nicht gewagt hätte? "Wahrscheinlich wäre ich eine unglückliche Frau geworden", sagt Mascha. "Eine Frau, die sich und die Welt immer mehr verloren hätte beim Versuch, es allen recht zu machen." Stattdessen hat sie den Alleingang gewählt. Und festgestellt, dass es gar keiner ist. Im Gegenteil: "Je weniger ich versuche, anderen zu gefallen, desto mehr spüre ich, wie viele mich mögen, so wie ich bin."

Was Mascha mag

Bücher Susan Orbach: "Bodies. Schlachtfelder der Schönheit" (Arche Verlag 2010). Marilyn Wann: "Fat! So?" (nur in Englisch, Ten Speed Press 1998) Blogswww.therotund.com von Marianne Kirby aus Florida. www.reizende-rundungen.blogspot.de: Modeblog einer deutschen Studentin

Ein Artikel aus BRIGITTE Heft 25/2012 Text: Dorette Gühlich Foto: Thomas Rusch

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